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  • AutorenbildFranz Hoegl

Design und Soziale Adresse

Aktualisiert: 21. Okt. 2023

Aus systemtheoretischer Sicht wird Kommunikation bekanntlich nicht als etwas verstanden, das Leute „tun“, sondern als eine eigenständige – eben: soziale – Wirklichkeit, die den Menschen gleichsam widerfährt (und sich durch diese Widerfahrnisse reproduziert); Kommunikation zieht eine Grenze auf, an der sich individuelle Motive, Dispositionen und Erwartungen brechen, genauer: (unter bestimmbaren Unständen) umgebrochen werden in Beiträge (sofern der noise der Systeme in der Umwelt der Kommunikation von der Kommunikation selektiv aufgegriffen wird und als Beitrag gewertet wird), die dann ein kommunikatives "Eigenleben" entwickeln, ein Prozessieren, das sich einem direkten, kontrollierenden Zugriff durch die an Kommunikation Beteiligten entzieht. Man wirft, beispielsweise, etwas in die Runde – und selbst wenn man mit der anschließenden kommunikativen Karriere des Beitrags nicht zufrieden ist, kann man nicht viel mehr tun als weitere Äußerungen in korrigierender Absicht hinterher zu werfen, für die aber das Gleiche gilt. Warum ist das so? Weil es den an Kommunikation Beteiligten nicht möglich ist, ihren Äußerungen gleichsam „Psychisches“ mit auf den Weg zu geben, und also kann auch bei keinem Ego Alters „Erleben“ ankommen.

Das Bewusstsein richtet sich auf Kommunikation in seiner Umwelt ein – aber das Bild wäre unvollständig, würde man nicht umgekehrt die Abhängigkeit der Kommunikation von den koevoluierenden Bewusstseinen in Rechnung stellen. Kommunikation kann nicht sprechen, schreiben, lesen, hören. Kommunikation „kann“ gar nichts, sie ist kein Subjekt, sondern ein Verweisungszusammenhang, der sich jedesmal reproduziert, wenn sich Bewusstseine daran stoßen und in der Folge daran orientieren; so wie die Sitten, die nicht von spezifischen Individuen geplant und betrieben werden können, und zugleich – mitunter gnadenlos – sehr spezifisch Ablehnung und Annahme individueller Offerten regulieren.

Kommunikation besteht aus verketteten bzw. aneinander anschließenden Ereignissen, aus mitgeteilten Informationen, die sich auf vorangegangene mitgeteilte Informationen beziehen. Das „Eigenleben“ der Kommunikation, besser: ihre Nicht-Kontrollierbarkeit entsteht genau durch diese oberflächliche Nachträglichkeit, denn dass die vorangegangenen Ereignisse ‚mitgeteilte Information’ waren wird erst durch anschließende Mitteilungen festgelegt, die eben so und nicht anders auf diese Ereignisse Bezug nehmen. Hier zeigt sich auch die relative Autonomie der Kommunikation gegenüber absichtsvollen Handlungen der Individuen. Denn auch nichts getan zu haben schützt nicht davor, dass eben dieses Nichts-Tun als Mitteilung aufgefasst wird und die Information herausgelesen wird: „Ihr Schweigen sagt ja wohl alles!“

Kommunikation, so die Annahme der Systemtheorie, findet immer dann statt, wenn an Ereignissen die Aspekte Information (was?) und Mitteilung (wie?) unterschieden werden und auf eines der beiden Relata durch eine weitere Mitteilung Bezug genommen wird. Und diese Bezugnahme ist wiederum nur dann eine Bezugnahme (wird dann nur eine gewesen sein), wenn sie in Folgeereignissen in eben dieser Weise als Bezugnahme behandelt wird, indem erneut an ihr Information und Mitteilung unterschieden wird usw. In Anlehnung an die pragmatische Sprachphilosophie könnte man sagen, der Sinn einer Äußerung zeigt sich darin, welche Folgen ihr Aufgegriffen-worden-sein zeitigt. Durch diese prinzipielle Nachträglichkeit werden die an Kommunikation Beteiligten und ihre Motive immer wieder aus der Kommunikation herausgeschoben. Dieser (uneinholbare) Entzug wird besonders deutlich, sobald man nicht nur an Kommunikation unter Anwesenden denkt, sondern auch an schriftliche oder elektronisch organisierte Kommunikation.

Aus diesem Grunde lässt sich Kommunikation nicht direkt beobachten, nicht wahrnehmen, denn die Elemente des Kommunikationsprozesses sind nicht materielle Texte, Laute, (Schirm)Bilder, sondern flüchtige Ereignisse sich verkettender Bezugnahmen, deren Sinn sich als Spur in den Medien der Kommunikation nachverfolgen lässt, indem jede Bezugnahme, jeder Anschluss als Wahl beobachtet werden kann. Die Eigenständigkeit der Kommunikation ist also nicht so zu verstehen, dass Kommunikation wie ein unsichtbares Lebewesen selbsthandelnd als ein Akteur neben den sichtbaren Leuten herumsitzt, sondern als ein Prozess, als ein „was-sich-in-Folge-herausstellt“. Kommunikation prozessiert Sinn (bieten Sinn an), und operiert doch selbst sinnfrei (vgl. Fuchs, Peter (2015): Das Sinnsystem. Prospekt einer sehr allgemeinen Theorie, Weilerswist: Velbrück). Sie ist nichts außer einem gleitenden Konstellieren, ein sich-so-ergeben-Haben, dem psychische Systeme Sinn entnehmen und im Zuge dessen für neue Konstellationen sorgen as they go along. Wie ein Trampelpfad, der nicht selbst trampelt, der sich aber verstärkt, indem Wandernde auf ihn stoßen und sich an ihm orientieren.


Kommunikation hat kein „Anfangsproblem“ (Peter Janich), sondern ein Weitermach-Problem. Was bietet Kommunikation sich und den Individuen in ihrer Umwelt als Andock-Möglichkeiten an? Kommunikatives Verstehen gibt sich selbst Führung indem es Mitteilungen als Handlungen deutet, sprich, indem stets eine Unruhequelle imaginiert wird, der die Mitteilung quasi autorenhaft zugerechnet wird. Die Konstruktion dieser Unruhequelle, d.h. ihren systemspezifischer Zuschnitt bezeichnet der Term „Personen“: „Personen sind Bedingungen der Fortsetzung von Kommunikation, sind Adressen, Zurechnungspunkte, sie (...) fallen gleichsam als Nebenprodukte an, wenn überhaupt kommuniziert wird; man muss schließlich wissen, wer für Mitteilungen verantwortlich ist und an wen man sich mit Rückfragen oder mit Bitten um Erläuterung oder Kritik zu wenden hat.“ (Luhmann, Niklas, (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp. S. 30.) Das Begriffswort „Personen“ ist also nicht eine theoriesprachliche Sonderbezeichnung für Menschen, sondern für soziale Erwartungsbündel. Diesen sozialen Erwartungsbündeln wird nur soviel Überraschungsspielraum eingeräumt, wie es für die jeweilige Systemreproduktion relevant ist. Personenkonstrukte bestimmen laufend, was von einer personalen „Adresse“ an Mitteilungen, an Verhalten erwartbar ist (und was nicht), und für welche Mitteilungen sie als Empfänger in Frage kommen (und für welche nicht). Soziale Systeme sind in diesem Sinne ständig darauf angewiesen, Zurechnungspunkte, Mitteilungsinstanzen, kurz: soziale Adressen zu entwerfen [1].

Das Finanzamt etwa konstruiert Adressen als „Steuerzahler“, nicht als ganzheitliche Menschen, mit all ihren Vorlieben, Eigentümlichkeiten und Auffälligkeiten. Ein Beispiel aus dem Gesundheitsbereich wäre die sprichwörtliche „Niere auf Zimmer 5“. Adressen sind, um es noch einmal in Erinnerung zu rufen, nicht die öffentliche Außenseite der Bewusstseine, sondern eine sozialsystem-interne Struktur, die Erreichbarkeit und Wiederbesuchbarkeit gewährleistet. Ob, wenn eine Adresse kommunikativ erreicht wird, auch ein spezifisches Bewusstsein erreicht wird, spielt für die Fortsetzung der Kommunikation keine Rolle. Nur so ist es z.B. möglich, Säuglinge oder Baumfeen im als-ob-Modus mit an sie adressierter Kommunikation zu überziehen, solange sich nur irgendwelche Bewegungen als Handlungen eines hinter der Adresse imaginierten Unruheherds deuten lassen (und insofern ein Bewusstsein sich an diesen kommunikativen Offerten zu orientieren und auszurichten beginnt, spricht man von Sozialisation). Die Aufrechterhaltung dieser Unterstellung kann aber auch zusammenbrechen, und Adressen erlöschen gleichsam. Die Sozialisation von Baumfeen gelingt heutzutage kaum noch, dafür wird bisweilen Maschinen und Computern ein kognitives Eigenleben unterstellt.

Mit Blick auf mein Thema „Design“ könnte man auch sagen, dass Kommunikation genötigt ist, sich ein Oberflächendesign zu geben, an dem sie sich selbst orientiert, und das für „Benutzer“ ausreichend faszinabel ist, um zu Beiträgen zu verlocken (sozusagen im Angesicht des Risikos, womöglich „dumm dazustehen“). Und umgekehrt sind Individuen genötigt, sich ein Oberflächendesign zu geben, das sie für Kommunikationen adressabel macht.

„Adressen sind eine Frage des Überlebens“ (Peter Fuchs), denn sie entscheiden über drinnen und draußen, über Inklusion und Exklusion. Sobald Kommunikation in Gang kommt, kommt auch der Mechanismus der Adressbildung in Gang. Aber damit ist noch nicht festgelegt, wie diese Adressbildungen profiliert sind. Nicht nur werden in Familien andere Adressen konstruiert als etwa beim Militär, sondern auch historisch ändern sich Adressenkonstruktionen: Hand in Hand mit der Evolution der Gesellschaft.

Dies ist der Moment, in dem Design sich langsam anschickt die Bühne zu betreten...



Das Bezugsproblem des Designs: Who are you?


Um den Auftritt des Designs vorzubereiten gilt es sich vor Augen zu führen, was mit der kommunikativen Struktur der sozialen Adresse geschieht im Zuge der Umstellung der vormals geschichteten Gesellschaft auf funktionale Differenzierung.

Für stratifizierte Gesellschaften kann man feststellen, „dass die Adresse des Individuums in der Schicht, in die es eingeboren war, gebildet, also in diesem Sinne lokal konstruiert wird. (...) Die Schichtadresse determiniert weitgehend, welche Glück- und Leidchancen dem adressierten Individuum zugänglich sind, welche definitiv nicht“ (Vgl. Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Ders.: Konturen der Modernität, Bielefeld: transcript, S. 51.) Diese Überbestimmtheit individueller Inklusionschancen gewährt zugleich eine große Orientierung, insofern jeder Mensch gleichsam als Filiale seiner Schicht in den meisten Situationen genau wusste, zwischen angemessenem und unangemessenen Verhalten zu unterscheiden.

Mit der Auflösung der sozialen Schichtung als primärem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip, mit der Freigabe von Leistungsrollen und der Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kodes ergeben sich Inklusions/Exklusions-Erkennungsprobleme: Wer und was kommen für was und für wen in Betracht? Einem mittelalterlichen Hufschmied hätte der Begriff der Zielgruppe kaum in den Sinn kommen können. Andererseits hätte ein absolutistischer Fürst bestenfalls spöttisch gelächelt über die moderne „Exklusivität“ eines Ferrari-Sportwagens, den jeder haben kann, solange er nur und gänzlich ordinär: bezahlt.


Personen und Rollen sind auch in vormodernen Verhältnissen nicht Menschen aus Fleisch und Geist, sondern soziale, d.h. kommunikative Erwartungsstrukturen, die sich auf ansteuerbare Adressen abstützen. Im „Adressformular“ (Peter Fuchs) ist verzeichnet, wer für welche Ansprachen, Mitteilungen, Zumutungen, Erlebensspielräume etc. in Frage kommt. Aus dieser Perspektive erscheint der Übergang zur Moderne nicht so sehr als Individualisierung, sondern als eine Veränderung der Form von Individualität. Die soziale Adresse war in vormodernen Zeiten gleichsam vorformatiert in Bezug auf Eintragsmöglichkeiten und Upgradechancen. Peter Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von „abschließbaren Adressenformularen“ (Fuchs, Peter (2007): Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen, Weilerswist: Delbrück, S. 174 f.): „Man könnte auch von einer ‚flachen’ Adresse sprechen, die keine extrem hohen Verstehensaufwände nach sich zieht und kein Ausloten unberechenbarer Selbstreferenz erfordert. (...) Aber es war alles in allem nicht notwendig, ‚Tiefen’ und ‚Kompliktionen’ der Selbstreferenz in die Adresse auszubauen. Sie war weitgehend determiniert durch das Stratum, in dem sie eingesetzt wurde...“

Trotz aller leiblicher Jemeinigkeit, die auch für mittelalterliche Körper nicht bestritten werden soll, bleibt die mittelalterliche Adresse als ein distributives Allgemeines eingebettet in eine hierarchische, monokontexturale Ordnung.

Mit dem Übergang zur modernen, heterarchen, polykontexturalen Gesellschaft löst sich die Einheit der abgeschlossenen, monokontexturalen Adresse auf. Nicht in dem Sinne, dass nun die Liste möglicher Einträge ins Adressenprofil endlos weiter geschrieben würde. Auch in der Moderne gibt es Adressenformulare, in denen fast nichts drinsteht – und andere, deren Formular schon beim Start so weit befüllt ist, dass man dann von „struktureller“ Exklusion bzw. Inklusion spricht. Aber in dem Maße, wie sich kodierte Beobachtungsformen verselbstständigen und je eigene Welten auswerfen [2], ko-evoluiert die soziale Struktur der Adresse zu einer Liste, der außer der körperlichen Zurechnung kaum ein (etwa durch die Vertäuung von Name und Körper) oder gar kein einheitsstiftendes, nicht-gegenbeobachtbares Ordnungsprinzip innewohnt. Kein Eintrag kann in seiner Relevanz oder Bedeutung festgezurrt werden, da sich Relevanz und Bedeutung je nach Sprachspiel, je nach System ändert. Ebenso werden die einzelnen Einträge des Formulars semantisch voneinander unabhängig. „Komplettcharaktere“ lassen sich nicht mehr durch alle möglichen Kommunikationen durchhalten. Dagegen war ein mittelalterlicher König ein König, gleich, was mit ihm geschieht. Er konnte sein Land und seine Burg und seinen Verstand verlieren, aber nicht seine Filialpersönlichkeit „König“.

Königshäuser gibt es heute auch noch. Aber es wird schwierig: In Großbritannien wurde entschieden, auch Katholikinnen und Muslima die Thronfolge zu ermöglichen – aus systemtheoretischer Perspektive eine Polykontexturalisierung auch dieser Adresse.


Das moderne Individuum ist nun nicht mehr eingebunden in einen durch Schichtenzugehörigkeit lebenslang feststehenden Kontext. Jedes Sozialsystem erwirkt eigene Adresseneinträge, die nur für die systemtypischen Irritationsfenster zugeschnitten sind; die Adressen mögen gerade noch den Namen teilen, ansonsten kommt es zu sehr unterschiedlichen und teilweise auch konfligierenden Adressprofilierungen. Von der Elternbeirats-Kuchenback-AG wird man anders angesprochen als vom Swingerclub, wenn auch von beidem mit Körperbezug. Erwartungen, mit denen man hier rechnen kann, muss man dort nicht durchhalten und umgekehrt. Die Funktionssysteme der Wirtschaft, der Politik, der Erziehung usw. operieren unter der Bedingung der asymmetrischen Differenz Inklusion/Exklusion. Von Zahlungserwartungen, von kollektiv bindenden Entscheidungen, von Ausbildungsambitionen wird zunächst und prinzipiell jeder betroffen – bis auf wenige, explizite, bezeichenbare Ausnahmen; aber auch diese expliziten Nichtzuständigkeiten sind systeminterne Bezeichnungen (d.h. Systeme finden Wege, auch noch den worst case, das „eigentlich Ausgeschlossene“ intern zu bezeichnen und zu behandeln: Dann sind diejenigen Schüler, die sich entgegen der Betriebsmetaphysik des Erziehungssystem – „Jeder ist erziehbar“ – doch nicht erziehen lassen, halt zu „blöd“; Wähler, die sich entgegen der Erwartung des Politiksystems zu nichts binden lassen, eben „verblendet“; Nutzer, die sich von uasability-getesteten Optimierungsangeboten des Designs nicht angesprochen fühlen, eben „geschmacklos“).

Aus der kompakten, klar nach Schichtenmöglichkeiten eingegrenzten Adresse der Vormoderne wird unter den polykontexturalen Bedingungen unserer Zeit die flache, unabschließbare, listenförmige Adresse, in die gänzlich heterogene Markierungen eingetragen werden, die sich zwar zu semantischen Gruppen bündeln lassen mögen, von denen aber keine auf Dauer eine hierarchische Führung übernehmen kann. Auch der Vollblut-Unternehmer, der Berufskriminelle, die Powerfrau, die Delphinbefreierin bieten im praktischen Lebensvollzug noch allerhand mehr als es die jeweiligen Adressen-Narrative ausschnitthaft behandeln.

Der mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft einhergehende moderne Profilierungsdruck, sich jeweils und vorübergehend für funktionssystemische Offerten passend zu machen, legt es nahe, nach Techniken persönlichen Adressenmanagements zu suchen, und m.E. liegt hier ein Grund für die Attraktivität von Design. Gleichwohl sind solche Techniken oder Praktiken – aus der Sicht der beteiligten Individuen – tendenziell tragische Versuche, insofern die Adresse trotz ihres Direktionswertes für Bewusstseinssysteme ein soziales Konstrukt bleibt, eine Struktur der sozialen Systeme, und kein kontrollierbares Produkt persönlichen Einbringens (Man denke etwa an rassistische Programmierungen, in denen manche Adressenkonstruktionen kontrafaktisch durchgehalten werden, so sehr sich die diskriminierten Individuen auch bemühen mögen). Denn wenn die Annahme zutrifft, dass Adressen soziale Konstrukte sind, und infolge dessen unter polykontexturalen Bedingungen die Adresse zur polykontexturalen Adresse wird, dann heißt das für die „andere“ Seite der Differenz von Kommunikation und Bewusstsein – eben: für das Bewusstsein –, dass es gerade nicht, wie aktuelle cultural studies oder Praxistheorien vorschnell annehmen, um „Subjektivitätsarbeit“ geht, also um ein mögliches, wenn auch bisweilen sehr aufwändiges Management der vielen „Rollen“ und „Identitäten“, die man im Alltag per Kulturpraktiken annimmt, sondern dass auch das Bewusstsein selbst polykontextural wird. „Den“ Kern , der man „ist“, und sei es, wenn man nach einem harten Tag voller Subjektivitätsarbeit müde aufs Sofa fällt, findet man nur noch als (Selbst)Beobachtung, mit all den Aus- und Abblendungen, die mit der Operation des Beobachtens notwendig einhergehen. „Man kennt sich nicht“ (Peter Fuchs), aber gerade das ist die Voraussetzung für all die konkurrierenden Identitätssupplemente, nach denen sich Kommunikation wie Bewusstseine umsehen. Es geht also nicht um ein Persona(l)-Management der Maskenauswahl, hinter dem eine zentrale Ich-Monotextur steckt, sondern um einen ständigen Austausch von Oberflächen, bei dem, durch eben dieses Austauschen, ein „Selbst“ überhaupt erst ausfällt (vgl. Fuchs, Peter (2010): Das System SELBST. Eine Studie zur Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: „Ich liebe Dich!“?, Weilerswist: Velbrück).


Die grundsätzliche Freisetzung des Individuums aus seiner Schichtungsformation hinein ins weite Feld der funktionssystemischen Vollinklusion würde, uneingeschränkt, zu einer Komplexitätsexplosion der Gesellschaft führen. In Anlehnung an die Sprache des Marketings könnte man von einem riesigen Streuverlust jeder kommunikativen Offerte sprechen. Vor diesem Hintergrund bildet die moderne Gesellschaft zahlreiche, funktional äquivalente Weisen aus, Inklusion/Exklusion wieder in sich selbst einzuführen um so die Komplexität der Adressierungen zu reduzieren. Denn auch in der Moderne ist nicht jeder überall dabei, aber die Einrichtungen des dabei-Seins und des draußen-Bleibens haben sich verändert.

Der moderne Exkludierte fällt nicht entpersönlicht aus der Gesellschaftsordnung heraus wie die Wilden Waldleut’ und Vogelfreien des Mittelalters [3], sondern er bleibt inkludiert, indem ihm persönlich gesagt wird, dass er nicht dazu gehört (vgl. hierzu einschlägig Nassehi, Armin (2008): Die paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die „Phänomene“, in: Heinz Bude und Andreas Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition HIS, S. 46 – 69). Diese Aufgabe übernehmen in der Moderne vornehmlich Organisationen [4]. Damit funktionssystemisch Inklusion der Normalfall bleiben kann, wird sie organisatorisch zur Ausnahme.

Für die beteiligten Menschen in der Umwelt der Organisationen und Funktionssysteme stellt sich die Inklusions/Exklusions-Differenz als Karriereproblem im weiteren Sinne dar. Und damit als Zeitproblem, als Zumutung nämlich, gegenwärtig im Rückblick eine Geschichte über sich erzählen zu können, wie man wurde, was man – dann, nach dem Erzählen – sein wird. Manche dieser organisationsbedingten Biografismen folgen Formaten, die bereits stereotypisiert auf Aktenfähigkeit getrimmt sind (etwa, wenn sich Menschen selbst als so defizitär beschreiben und erleben, wie es den Anforderungen zur Beziehung von staatlich organisierten Transferleistungen entspricht, als zu arm, zu alleinerziehend, zu krank, zu ausländisch usw.), oder auf noch schmalere Irritabilitätsfenster („Gefreiter Müller, Fünfte Kompanie, Fernmeldebataillon Vier!“). Soziale Formate stellen Anforderungen an spezifische Virtuositäten, und manche eignen sich zugleich, um eben diese Virtuosität anzuzeigen bzw. vor Publikum aufzuführen. Eine solche Inszenierungs-Chance bietet das Design, als Ergänzung oder Supplement zur organisierten Adressenprofilierung. Design bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche Inklusion mit kontextrelativer Exklusion, mit „Exklusivität“ also, zu verbinden. Vorzuführen, nicht dazu gehören zu müssen (weil man in anderen Systemzusammenhängen ausreichend inkludiert ist!), könnte in der Hochmoderne wie eine Fortführung der weißen Handschuhe erscheinen, die anzeigten, dass man nicht körperlich arbeiten musste – aber auch die weißen Handschuhe sind in der hier vorgeschlagenen Perspektive bereits eine Designmaßnahme. Exklusivität ist freilich nicht auf die Vorführung von Oberschichtenzugehörigkeit beschränkt. Man denke nur an den Dresscode von Motorradrockerclubs oder den Gebrauch von Thinkman-Taschenmessern.


Design ergänzt organisierte Adressierung. Denn wenn auch Organisationen maßgeblich an der Adressbildung, etwa qua Biografisierung persönlicher Vergangenheiten, teilhaben, so bleibt ein weiteres Zeitproblem: das Problem nämlich, Vergangenheiten (Abkunft, Karriere, Sozialisationsgeschichte, Auslandsaufenthalte, Gefängnis, Armeedienst...) gegenwärtig, hier und jetzt, nachvollziehbar vorführen zu können. Insbesondere Interaktionssysteme haben nur kleine Systemzeitfenster, um zu ermitteln, mit „wem“ man es gerade, gegenwärtig, zu tun hat, für was wer als Sender oder Empfänger in Frage kommt (Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 33):

"Einerseits sieht man, daß die Festlegung von Erwartungen in der laufenden Kommunikation (einschließlich des Abrufens von institutionalisierten Erwartungen) den Bewußtseinssystemen die Chance der Vorbereitung, ja einer Art Selbstdisziplinierung vermittelt. Sozial bedingte größere Erwartungsunsicherheit kann somit zugleich die Erwartungen an die Vorprüfung der individuellen Beiträge steigern - so geradezu modellhaft in den Oberschichten der auslaufenden Ständegesellschaft, die Elias so überzeugend analysiert hat. Andererseits stellt der Kommunikationsprozeß dafür oft nicht genug Zeit zur Verfügung, und erst recht keine Chance zu hinreichend langfristiger Vorbereitung. Bourdieu löst dieses Problem durch den Begriff des unbewußt handhabbaren ‚Habitus‘. Vielleicht ist es aber sinnvoller, es einfach als Problem zu bezeichnen, das von Überforderung bis zur Routinierung sehr unterschiedliche Halblösungen zuläßt." (Und, so möchte ich ergänzen, eine dieser Halblösungen bietet die streunende, dazu-schaltbare Beobachtungsform „Design“)


Anders als in vor- oder frühmodernen Zeiten kann man aus dem gegenwärtigen Eindruck nur mit großer Unsicherheit auf plausible Vergangenheiten schließen – und damit auf spezifische Adressenprofile. Je weniger man in modernen Zeiten stereotypisierte Lebensläufe (adeliger Nachnahme, also vermutlich Armeedienst absolviert) unterstellen kann, desto schwieriger wird es, geschmeidige Kommunikationen in Gang zu halten, auf die es gerade in urbanen Lagen ankommt (vgl. Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116–131.); und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kommunikation stereotypisierte Interaktionsformen (z.B. über hyper-verständliche Themen) anwählt, durch die sich zwar die Autopoiesis der Kommunikation fortsetzt, aber nicht viel mehr (So etwa, wenn Kommunikation unter anwesenden, aber sich komplett unbekannten Jugendlichen sofort auf Körperlichkeit Bezug nimmt: „Ey, du bist hässlich!“).

Ein funktionales Äquivalent zu leichtgängigen Themen und Medien wie etwa Vertrauen oder Macht oder Geld oder Sexualität/Körperlichkeit, bei gleichzeitiger Ermöglichung handhabbarer Nuanciertheit und Komplexität, bietet Design: als Angebot [5] lesbarer, schnell verständlicher persönlicher Benutzer(projektions)oberflächen. Und dieses Angebot gilt, wie eine von Vorder- wie Rückseite betrachtbare Kinoleinwand, sowohl für Kommunikation, die qua Design Personen lesbar macht, als auch für Bewusstsein, das sich an diesen Projektionen orientiert. Design löst, in der Zeitdimension von Sinn, das Inklusions/Exklusionsproblem der Sozialdimension durch die situative, vorübergehende Erzeugung von interfaces zwischen sozial angelieferten, also kommunikativ verfügbaren Geschmackstypologien und individuellen Lebensläufen, und zwar – und erst dies macht m.E. das Spezifische der Problemlösung „Design“ aus – in der Sachdimension durch vorübergehende Kopplungen von Gebräuchen, Konsumierbarkeiten, Brauchbarkeiten zu nutz(ge)nießerischen Geschmacksinszenierungen. Indem vorgeführt wird, wer was für genießbar bzw. ungenießbar hält, zeigt sich, was sonst noch von dieser Person zu erwarten sein möge, ohne dass man es genau sagen müsste oder könnte. Durch die Nutzung, aus der (prinzipiell öffentlich) Genuss gezogen wird, inszenieren sich Geschmackstypen oder -stile, die zugleich – als Exklusionsindividualität – auf Adressenprofile verweisen, sofern jeder Geschmack immer an Körperlichkeit gebunden ist; an Körper, die einerseits schmecken, anfassen, klicken, drehen und sich wenden können, und andererseits, neben dem Eigennamen, als letzte Einheitsgaranten für polykontexturale Adressen fungieren. Design liefert, um es noch einmal kompakter zu formulieren, Kopplungen (interfaces) von Gebrauch und Genuss im Meta-Medium des Geschmacks, die es einem Publikum ermöglichen, ansonsten unhandliche Adressenformulare mit einem Blick zu überfliegen: als Verweisungen auf sozial verfügbare (verständliche) Lebensformen. Hierin liegt die typische Anbivalenz des Designs, auf die bereits Maren Lehmann [6] hingewiesen hat: Jedermann Exklusivität zu versprechen, die, wenn sie exklusiv wäre, von Niemandem verstanden würde.

Diese zumindest paradoxieartige Form der Design-erzeugten Exklusionsindividualität wird in der Zeitdimension entfaltet: Es werden immer nur vorübergehende Adressenformularausschnitte auf schnelle Lesbarkeit getrimmt, so dass ständig neue Formen der Selbst- und Fremddarstellung gefunden werden können, ohne dass je „die“ gute (Lebens)Form alles zeigen und damit Design implodieren lassen würde. Die Attraktivität in der Zeitdimension wird ergänzt durch die Entlastung in der Sachebene: Design entlastet von authentischen Komplettpersönlichkeitszumutungen, man kann sich für einen Abend einen Smoking anziehen, ohne deshalb das ganze Leben ändern zu müssen.


Design löst (neben anderen, auch möglichen Lösungen) also nicht schon dadurch das Problem komplexer Adressenprofile, indem Leute Objekte nutzen. Sondern, indem dieser Nutzen (prinzipiell öffentlich [7]) mit Genuss übercodiert wird, um so auf Geschmackstypen zu verweisen – wobei man als Designforscher nicht zu fantasielos sein sollte, um sich vorzustellen, was alles als Genuss empfunden werden mag. Gerade der Bereich der Nahrungsaufnahme, mit dem man das Wort „Geschmack“ zunächst in Zusammenhang bringen mag, wirkt hier instruktiv. Denn ‚feine’ Geschmäcker zeigen sich weltweit u.a. darin (und erkennen sich gegenseitig daran), gerade solche Lebensmittel für ausgesprochen genießbar zu halten, die unter anderen Aspekten als vergammelt und verfault wegsortiert würden: Blauschimmelkäse, vergrabene Eier, schwedische Dosenfische, sonnengetrocknete Schlangenleiber... (Zum hier vorgeschlagenen Begriff des Geschmacks als Medium wird es einen eigenen Eintrag geben).

Das Besondere, das den Genuss zur Designmaßnahme macht, ist die Möglichkeit, diesen Genuss mit einem irgendwie gearteten Nutzen zu verbinden. So kann man sich über die Garderobe von Yamamoto freuen, weil sich das nur wenige im Viertel leisten können (Distinktionsgewinn als Genuss), man kann aber jederzeit umschalten und betonen, dass man nur trägt, was auch bequem ist (Bequemlichkeit als Nutzen).

Dieses jederzeit mögliche „Umschalten“ verweist auf Beobachtung zweiter Ordnung. Es läge nahe, einen binären Code des Designs hinzubeobachten (genießbar/nutzbar), aber mittlerweile bin ich der Auffassung, dass das zu sehr more geometrico, und zu wenig mit Blick auf die zu klärenden Phänomene konstruiert wäre. Die Differenzen, mit denen man es – nicht nur, sondern auch – beim Design zu tun bekommt, fügen sich m. E. nicht dem Suchschema, wie es die Theorie aus erfolgreichen Anwendungen auf einige Funktionssysteme zu verallgemeinern gewohnt ist. Schon Selbst- und Fremdreferenz sind nie in „reiner“ Form im binären entweder-oder-Sinne unterschieden, von der Verschränkung von Information und Mitteilung ganz zu schweigen. Mehr-oder-weniger-Unterscheidungen-in-Betrieb können „ohne Formverlust“ (Peter Fuchs) operativ wirksam sein, sozusagen unterhalb der Formen (z.B. Mitteilung/Information//Verstehen), die sie mit Ereignissen versorgen. Insofern denke ich, es könnte sich lohnen, das etwas in Vergessenheit geratene Theoriestück des „operativen Displacement“ in einem meiner nächsten Einträge wieder zu besuchen (vgl. Fuchs, Peter (1993): Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt/M: Suhrkamp)…


 

[1] Vgl. zum Begriff der sozialen Adresse und für die folgenden Ausführungen einschlägig Fuchs, Peter (1997): "Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie", in: Ders.: Konturen der Modernität, Bielefeld: transcript, S. 37-62, und Fuchs, Peter (2003): Der Eigen-Sinn des Bewusstseins. Die Person – die Psyche – die Signatur, Bielefeld: transcript.


[2] Die mit je eigenen ontologischen Entitäten bevölkert sind. Vereinfacht gesprochen: In der Welt des Finanzamts laufen überall Steuerzahler herum, in der Welt des Geheimdiensts lauter Verräter, in der Welt der Politik lauter Wähler, in der Welt der Gesundheit lauter Fälle, in der Welt des Designs: Nutzer und Gestalter und Artefakte usw.


[3] Vgl. Fuchs, Peter (2005): Von Jaunern und Vaganten - Das Inklusions/ Exklusions-Schema der A-Sozialität unter frühneuzeitlichen Bedingungen und im Dritten Reich, in: Fuchs, Peter (2005): Konturen der Modernität, Systemtheoretische Essays II. Herausgegeben von Marie-Christin Fuchs.


[4] Dabei empfiehlt sich, von der geläufigen Kurzschließung von „Exklusion/Inklusion“ mit „Problem/Lösung“ Abstand zu nehmen. Denn gerade unter dem Gesichtspunkt ungleicher Lebensmöglichkeiten sind es mitunter die Armen und Schwachen, die Inklusion als einschränkende Zumutungen am eigenen Leibe erfahren (Stichwort „Hilfe macht hilflos“ – durch Arbeitsagenturen, Jugendamtsbetreuung oder Polizeisachbearbeitung), während sich die Wohlhabenderen ihre „Exklusionsindividualität“ (Armin Nassehi) leisten, indem sie sich von staatlich organisierten Inklusionsandrohungen freikaufen können und im Übrigen auf Waldorfpädagogik setzen.


[5] Vgl. dazu auch das in der Designtheorie verhandelte Konzept der affordance, an die vorliegende These in extrem abstrahierender Weise anschließt, etwa: Gibons, James J (1979): The Ecological Approach to Visual Perception. Hove: Psychology Press, Michael Erlhoff, Tim Marshall (Hrsg.) (2008): Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des design, Basel: Birkhäuser.


[6] Lehmann, Maren (2001): Die Ironie der Form, PDF, download 01.11.2021 http://home.snafu.de/jonasw/PARADOXLehmannD.html


[7] Und der stille, unbeobachtete Genießer ist hier ebenso wenig ein Argument gegen die These der prinzipiellen Publikumsbezogenheit von Designgebrauch wie Robinson Crusoe gegen die sprachphilosophische These der Abhängigkeit der Sprachkompetenz vom Kontakt mit Kommunikation. Denn irgendwoher müssen die einsamen Genießer und Sprecher ihr luxuriertes Spezialverhalten ansozialisert haben. Und gerade das Nicht-Nutzen einer Option kann vor dem Hintergrund ihrer Möglichkeit zu einem Auskosten werden.



Menge in der Enge.




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