In fact, when one starts from the beginning,
there is nothing to learn.
There is everything to unlearn,
but nothing to learn.
George Spencer-Brown
George Spencer-Brown, Photography: Mirko Ludewig
1. Einleitung
Das grafische Arsenal der Soziologie, das lange Zeit vor allem aus Kreuztabellen und Verteilungsdiagrammen bestand, wurde durch die Systemtheorie, spätestens mit Dirk Baeckers „Form und Formen der Kommunikation“ (2005), durch jene auffälligen „Formen“-Darstellungen[1] mit ihren ineinander verschachtelten Haken und um-die-Ecke führenden Linien erweitert, durch die sich viele systemtheoretische Texte schon gestalterisch in typischer Weise von ihrer soziologischen Umgebung abheben. Während das Interesse sich gewöhnlich und naheliegenderweise darauf konzentriert zu erläutern oder zu verstehen, was sich in diesen grafischen Figuren, deren Gestalt sich auf die von George Spencer-Brown in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten mathematische Notation (Spencer-Brown 1979) zurückführen lässt, zeigt, wird kaum thematisiert, welchen theoretischen Status dieser Formengrafiken einnehmen: Sind es „Formalismen“ (Baecker 2005, 60) eines mathematischen Kalküls der pragmatischen Redundanzen menschlicher Kommunikation (Baecker 2014, in Anlehnung an Watzlawick et al. 2017), sind es „Gleichungen“ (Karafillidis 2015, 39), „Symbole“ (Simon 2018, 25)? Vorliegender Beitrag schlägt der Systemtheorie vor, ihren Umgang mit diesen Formengrafiken als diagrammatische Praxis im Kontext der Unterscheidung Symbolisierung/Formalisierung (Carnap 1968) zu verstehen. Mithin, diese Formen-Figuren nicht als Formalismen, d.h. als Ausblicke auf einen noch ungeschriebenen Formenkalküls des Sozialen zu begreifen, sondern – entgegen der Selbstbeschreibung dieser Praxis (Baecker 2005, 11f.) – als symbolisierende Diagramme. Der Beitrag geht dem Eindruck nach, dass der Gebrauch der Form-Figuren loser an die Mathematik gebunden sein möge als gemeinhin unterstellt oder behauptet wird und argumentiert dafür, diesen Gebrauch nicht als „Anwendungen“ des Formkalküls der Laws of Form, sondern als in Betrieb genommene „Analogien“ zu deuten. Neben dem heuristischen Wert solcher Figuren-Gestaltungen werden weitere Vorteile einer solchen „operativen Bildlichkeit“ (Krämer 2009) herausgearbeitet: Sie bietet die Möglichkeit, manche theoretischen Schienungen einer räumlichen Metaphorik, wie sie, so die These, in der geläufigen Interpretation des Begriffs der „Zwei-Seiten-Form“ operativ wirksam wird, zu verlassen.
In diesem Sinne ist der vorliegende Aufsatz im engsten Sinne des Wortes ein Beitrag zum Theoriedesign.
2. Formentaufe
Die Zwei-Seiten-Form ist ein terminus technicus der von Luhmann geprägten soziologischen Systemtheorie.[2] Er verdankt sich einer Interpretation des Spencer-Brownschen Formbegriffs, dessen grundsätzliche Innovation darin besteht, die beiden Traditionen des Nachdenkens über (und: mittels) Formen und Unterscheidungen in eine „einfache Formel“ (Klinger 2011, 133) zusammengeführt zu haben: Unterscheidung ist Form.
Die grundbegrifflichen und terminologischen Voraussetzungen für das Bauen von Begriffen im Allgemeinen, den Bau der Zwei-Seiten-Form im Besonderen nennt Spencer-Brown in den einleitenden Sätzen des Haupttextes der Laws of Form (1979, 1):
“We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.“
Aus der Differenz definition/ideas (also: der definition im Kontext der ideas) lässt sich nun der allgemeine ‚Bauplan‘ der systemtheoretischen Zwei-Seiten-Form entnehmen (vgl. etwa auch Karafillidis 2010, 81), der gerne in Gestalt einer Aufzählung seiner Elemente gegeben wird:
„Nenne Form im Anschluss an Spencer-Brown (a) die Innenseite einer Unterscheidung zusammen mit (b) ihrer Außenseiten (c) der Teilung zwischen den beiden Seiten und (d) dem Raum, der von der Unterscheidung hervorgerufen und in Anspruch genommen wird.“ (Baecker 2013, 17)
Die zwei Seiten der Zwei-Seitenform werden dieser geläufigen Interpretation (vgl. auch Simon 2018) zufolge als „Innenseite“ und „Außenseite“ bestimmt, die von einer Grenze auf ihre Plätze verwiesen werden, in einem Raum, der durch die Unterscheidung und Bezeichnung einer der beiden Seiten aufgespannt wird. Es ist diese Fassung des Formbegriffs, auf die jene charakteristischen Form-Figuren, um die es in diesem Beitrag geht, bezogen werden. Sie werden gebildet, indem man die Buchstaben, die in den Laws of Form unter oder neben die Cross-Haken (auch „Quere“ genannt) geschrieben werden können, durch normalsprachliche Wörter ersetzt. Die so erhaltenen Formen oder Formenarrangements bilden teilweise musterhaft Formeln der Laws of Form nach, es sind aber auch komplexe – sogar „krumme“ (Baecker 2021) – Formen-Notate gebräuchlich, die sich von den in den Laws of Form eingeführten Formeln emanzipiert haben und auf noch zu untersuchende Weise eigene Wege zu gehen scheinen.
Ohne auf Fragen der Bedeutung dieser Notate an dieser Stelle einzugehen kann man sagen, dass das bloße Anschreibensolcher Formen nicht notwendigerweise den gesamten mathematischen Apparat der Laws of Form aufruft,[3] so wie das bloße Vorkommen von algebraischen Symbolen in einem Ausdruck diesen nicht schon zu einem Ausdruck der Algebra werden lässt.[4] In diesem Sinne kann man etwa die Form des Systems normalsprachlich beschreiben als die Reproduktion der Unterscheidung von System und Umwelt, man kann diese Form aber auch mittels der barre obliqueanschreiben – „System/Umwelt“ –, oder eben mit der Queren-Notation der Laws of Form (Abb. 1):
Abb. 1
Je nachdem aber, wie eng man sich nicht am Formbegriff, sondern am Formenkalkül der Laws of Form orientieren möchte, mag die Frage eine Rolle spielen, inwiefern dieses Bestücken der Form mit Wörtern im Einklang mit den Regeln der Laws of Form steht.[5]
Vollzieht diese Bestückung nur, was in der primären Algebra der Laws of Form schon angelegt ist, insofern die Buchstaben der primären bzw. erweiterten Algebra durch Namen ersetzt werden?
„Nichts hindert uns daran, die Worte eines Satzes wie auch jeden Satz eines Textes oder die Texte eines Diskurses usw. in diesem Sinne als Variablen zu lesen, die sich Bezeichnungen und Unterscheidungen eines Beobachters verdanken. (Baecker 2013, 24)“
Dieses Argument bewegt sich im Kontext der Unterscheidung von „Distinktion“ und „Differenz“ (Baecker 1992; Fuchs 2016), auf der Ebene jener Zwei-Seiten-Form, wie sie beispielhaft in Abbildung 1 vorgeführt wurde, als der einfachsten, basalen Figur der Unterscheidung, aus der sämtliche komplexeren Arrangements gebildet werden:
"Eine Differenz ist also eine Form des Arrangements zweier Distinktionen, denn was in Differenz zueinander gesetzt wird, muss zuvor jeweils von allem anderen und unbestimmt Bleibenden distinguiert werden. Die Form der Differenz ist die Einheit zweier Distinktionen, also letztlich eine Form mit vier Seiten (Baecker 1992, 224).“
Die Distinktion/Differenz-Unterscheidung charakterisiert, in der hier vorgeschlagenen Perspektive, weniger Formen-Typen,[6] sondern Formarrangements wie in einer Art Schnappschuss, wie die abgeschnittene Spitze eines sich nach unten weiter verzweigenden Wurzelwerks. Denn jedem Aufgriff, jeder Selektion, jeder Bezeichnung sind nicht nur eine „Distinktion“ vorangegangen, sondern unabzählbare viele (Baecker 2013, 25). Insofern könnte man, je nach Abbruch, auch von Sechzehnseitenformen, von 3.678.456-Seiten-Formen usw. sprechen, oder, aus dem gleichen Grund, auf jedes Abzählen verzichten. So besehen ist das, was der Ausdruck „Vierseitenform“ bezeichnet, kein Form-Typ sui generis, sondern gleicht eher einem eingefrorenen Standbild der letzten Momente einer Unterscheidungsregistratur, einer Art Übersicht über die Reihenfolge von Unterscheidungen, einer Erzählung einer Vorgeschichte, die schon nach der „jüngsten“ Schicht abbricht.
Formal sind „Vierseitenformen“ Unterscheidungen von Einheiten von Unterscheidungen. Geht man davon aus, dass die Bedeutung eines Ausdrucks davon abhängt, welche Konsequenzen seine Bezeichnung zeitigt, dann kann man registrieren, dass, sobald eine Unterscheidung als Einheit weiterverwendet wird, ihre Differenzierungs-Geschichte gleichsam verdunstet. Sie wird, als Unterscheidung, folgenlos. Nur so sind auch Beobachtungen zweiter Ordnung möglich, denn sonst würden solcherart motivierten Beobachtungen nur die Unterscheidungen, die sie beobachten, selbst noch einmal vollziehen. D.h. aber auch, dass man durch den formalen Hinweis, die jeweiligen Seiten einer Unterscheidung seien doch selbst – sozusagen ‚eigentlich‘ – Unterscheidungen, kürzen[7] kann, da das durch die Namen Bezeichnete dann nicht Unterscheidungen ‚sind‘, sondern gewesen sind, und nun als Einheiten fungieren: der Hinweis verliert seinen Ansatzpunkt (eben jenen, Namensnennungen, die man unter Queren schreibt, dadurch auszuzeichnen, dass sie sich doch Unterscheidungen verdankten, und durch diese Vorgeschichte die Verbindung zu den Geltungsbedingungen des Formenkalküls der Laws of Form hergestellt und gewährleistet sei), um bloße Namensnennungen direkt mit den Unterscheidungen der Laws of Form kurzzuschließen, da er Bedingungen der Beobachtung erster Ordnung (das Nennen eines Wertes, der Gebrauch eines Namens, einer Bezeichnung, ein Thematisieren von diesem oder jenem) mit denen der Beobachtung zweiter Ordnung vermischt. Mit Einheitsbegriffen zu operieren („das“ Kind, „das“ System) hat gänzlich andere Folgen als das Operieren mit Differenzen im Kontext einer (stets hypothetischen) Beobachtung zweiter Ordnung (es macht einen Unterschied, ob man dem Eindruck nachgeht, jemand verwendet „Kind“ in Unterscheidung von „andere Unruheherde“, oder von „Mann“). Wenn man beansprucht, auf Unterscheidungen zu operieren (und nicht auf deren Einheitsbezeichnungen), dann muss man die beiden Seiten dieser jeweiligen Unterscheidungen notieren, und nicht deren Einheitsbezeichnung.
Wenn sich also jede Nennung, überhaupt jede sinnhafte Wahl Unterscheidungsoperationen verdankt, ist der Hinweis auf die Rückbindung von Namen an unterscheidende Beobachter zwar richtig, aber zu unspezifisch, denn der Hinweis ist, unter den Voraussetzungen der Theorie, immer richtig. Entscheidend ist, ob bzw. welche kognitiven und/oder kommunikativen Folgen eine Nennung (und sei es: der Einheit ‚einer‘ Unterscheidung) nach sich zieht. „Spätbarock“ verdankt sich als Bezeichnung zweifellos Unterscheidungen, und sei es nur jener als Wortwahl vor dem Hintergrund aller anderen, auch möglichen Wörter. Als Kompaktbegriff mag dieses Wort wie eine Abkürzung für ein tatsächlich hochkomplexes Unterscheidungssyndrom fungieren, in das unabzählbar viele Differenzen eingegangen sind, die nachzuzeichnen jede Beobachtung überfordern würde, auch jene, diese Unterscheidungsnester auf Formen der primären Algebra zurückzuführen. Insofern eröffnet in diesem Zusammenhang die Rede von „Verlegenheitsformen“ (Baecker 2013, 25) eine Option, die Relation zwischen den Form-Figuren der Systemtheorie und den Formeln der Laws of Formanders zu beschreiben denn als eine Art Anwendungsbeispiel, ich komme im übernächsten Abschnitt darauf zurück. Nichts mag uns daran hindern, die Variablen der Laws of Form durch Wörter, Sätze, Texte und ganze Diskurse zu ersetzen – diese freundliche Freigabe setzt freilich voraus, dass es sich bei den Buchstaben der Formeln der Laws of Formselbstverständlich und durchgehend um Variablen handelt.
In der der primären Algebra der Laws of Form beziehen sich die Buchstaben, die jener Hinweis („Nichts hindert uns daran, ...“) als „Variablen“ deutet, allerdings nicht auf Begriffe, soziale Errungenschaften oder sonst irgendwelche Lagen in der Welt, auch nicht auf unterschiedliche Unterscheidungen,[8] sondern nur auf die (Einheit der) first distinction zwischen markiertem und unmarkiertem Zustand dergestalt, dass die Variablen nur anzeigen, dass unterschieden wurde, dabei aber unbestimmt lassen, „auf welchen Zustand der Ausdruck als ganzes zurückführbar ist“ (Lau 2005, 74).[9] So besehen fungieren die Kleinbuchstaben der primären Algebra etwa nicht als Variablen, sondern als Parameter, vergleichbar den Hilbertschen „Mitteilungszeichen“ der Metamathematik, die anzeigen, dass in dem Kontext, über den gesprochen wird, konkrete Zahlzeichen bekannt sein sollen, sie aber in dem metamathematischen Kontext selbst unbekannt bleiben (Tapp 2006, 158). Die „Namen“ der Laws of Form bezeichnen nur die beiden Zustände, bzw. lauten die beiden (einzigen) in der Sprache der Laws of Form verfügbaren Eigennamen eben genau so: „markierter Zustand“ oder „nicht-markierter Zustand“ (Rathgeb 2016, 236).
Womöglich also findet die systemtheoretische sprachliche Aufladung der Form, für einen „mathematischen Beobachter“ (Luhmann 1990, 74), nicht wirklich ihre Entsprechung in der primären Algebra.[10] Was zunächst nicht mehr besagen würde als eben dies.
Eine andere Frage ist, ob es sich bei den ‚Formalismen‘ um Formalisierungen normalsprachlich gegebener soziologischer Beobachtungen handelt, sozusagen als Vorarbeit für künftige Kalkülisierungen. Eine grundsätzliche und angemessene Diskussion des Projekts eines Kalküls der Pragmatik der Kommunikation im Sinne Watzlawicks (Watzlawick et al. 2017; vgl. auch Baecker 2005) würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, ich werde mich darauf beschränken, kurz eher ‚(theorie)bautechnische‘ Aspekte anzusprechen, die sich ergeben, wenn man die Zwei-Seiten-Formen als Formalisierungen begreift.
3. Formen, Formalismen, Formalisierungen
Damit eine symbolische Kombinatorik (die je nach Tradition mal vor der Algebra, aber innerhalb der Mathematik angesiedelt wird, oder außerhalb der Algebra, als Teil der Logik) ihr Werk verrichten kann, werden Lagen, die zunächst in punktsprachlichen[11] Beschreibungen verfügbar sind, in solche sprachliche Ausdrücke umgeformt, die sich den Anforderungen der jeweils gewählten Logik fügen. Um etwa ein Argument mit den Mitteln der Syllogistik auf seine Gültigkeit prüfen zu können, muss man die normalsprachlichen Mitteilungen auf die Form kategorisch einfacher Urteile bringen („Alle S sind M“) und sie zu Prämissen und Konklusion zusammenstellen. Formalisierung ist in diesem Sinne keine bloße Übersetzung, sondern eine explizierende Zurechtstellung und Er-Setzung. Mehr oder weniger unexakt formulierte Sätze werden durch exakt geregelte Ausdrücke ersetzt (Brun 2003, 179f.). Ein solches Verfahren, seine Schritte und möglichen Kriterien, spielt in den methodischen Diskussionen der Systemtheorie (bislang) keine Rolle. Stattdessen ist es eine Frage der Intuition, der Pfiffigkeit und der Gewohnheit,[12] wie die soziologischen Beschreibungen portioniert werden,[13] damit sie zu den von den Laws of Form angebotenen Figuren passen; im Zuge einer Diskussion geeigneter Formalisierungsverfahren würde sich wohl auch zeigen, dass sich stets mehrere alternative Formalisierungen anbieten,[14] die nach einschränkenden Kriterien rufen.[15]
Insofern nicht nur von Formalismen, sondern vom ‚Rechnen mit dem Formenkalkül‘ die Rede ist, würde man darüber hinaus erwarten, dass Formalismen aus anderen Formalismen abgeleitet werden, dass z.B. Anschlussselektivität durch schrittweises Ersetzen von Ausdrücken modelliert würde. Bislang kennt die systemtheoretische Literatur nur Anschreibungen von einzelnen Formenarrangements, one-form-wonders, die konstruiert werden, ohne eigentlich in Betrieb genommen zu werden. Eine Attraktivität der Laws of Form für die Systemtheorie besteht in Spencer-Browns Idee, die Unterscheidung als basale Figur des Kalküls anzusetzen. Eben deshalb sind die Laws of Form nicht einfach Boolsche Algebra in seltsamer Notation. Und dennoch: Die Elemente von Kommunikationssystem oder Bewusstseinssystem sind, der Theorie zufolge, nicht nur Unterscheidungen, sie sind, als getroffene Unterscheidungen, zeitflüchtige Ereignisse, die vorangegangenen Ereignissen einen Sinn nachtragen, für die das Gleiche gilt.[16] Hier liegt vielleicht eine Erklärung, warum die systemtheoretischen Formalismen nie recht in Gang kommen, sondern immer bei der Beschreibung eingefrorener Formen stecken bleiben. Der Kalkül der Laws of Form eignet sich zur Modellierung von (immerhin: hochkomplexen) Verhältnissen, more geometrico, aber womöglich weniger als erhofft zur Formalisierung gleitender Prozesse[17] – was nicht ausschließt, Entwicklungen wie in einem Kinofilm als eine Abfolge diskreter Schritte zu simulieren. Vor diesem Hintergrund erscheint der Gebrauch (der Metapher) des Kalküls als Lösung des Problems, die Zeit aus dem Spiel herauszuhalten, indem man sie thematisiert: „Sometimes I think that Mathematics is an enterprise self-designed to do away with time“ (Kauffman 2002, 7) – so wie man tote Schmetterlinge auf einem Brett pinnt, um ihren Flugapparat im doppelten Wortsinne „in Ruhe“ studieren zu können.
Dies alles sind womöglich Indizien dafür, dass die Praxis der systemtheoretischen Formentheorie einen allusiveren Zugriff auf die Laws of Form pflegt, als es ihre Selbstbeschreibungen nahelegen.[18] Die Formen, welche die Systemtheorie identifiziert und beschreibt, fungieren so besehen eher als Suchmuster, als Unterscheidungen, die einen spezifischen Blick auf die Welt organisieren; so ähnlich, wie Wittgensteins Grammatik der Sprachspiele nicht behauptet, Sprachgebrauch bestünde ‚eigentlich‘ aus Sprachspielen, sondern eine Heuristik des Vergleichens einrichtet:
„Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, – gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichtigung der Reibung und des Luftwiderstands. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen.“ (Wittgenstein 2003, § 130)
Überträgt man dieses Programm auf die Gestaltung von Zwei-Seiten-Formen, sind die Form-Figuren nicht „direkte“, also durch Namens-Einsetzungen in die Formeln der Laws of Form in Betrieb genommene Durchführungen eben jener mathematischen Form-Gesetze, sondern diese dienen als Vergleichsmuster für jene Verhältnisse, die die Soziologie im Sinne einer qualitativen Sozialforschung tatsächlich beobachtet, indem sie die registrablen Kommunikabilien, das laufend Gesagte und beiläufig Vorgezeigte, das zufällig Bewegte ebenso wie das routiniert Hergestellte, als Spuren von anschlussverketteten Unterscheidungen deutet.
Zwischen den Form-Figuren und the form besteht, so also die These, kein Verhältnis der „Anwendung“ im Sinne einer soziologisch motivierten Einsetzung von Wörtern in mathematische Variablen, sondern der Analogie. So wie dort unterschieden und bezeichnet wird, so auch hier, gemeinsam ist beiden die Figur des Zusammenzugs von Bezeichnung und Unterscheidung. Aber während sich in den Laws of Form eine ganze Mathematik daraus entfaltet, fängt die Soziologie nun nicht an, zu rechnen, sondern sie lernt von den Laws of Form das Verlernen, sie verlässt sich nicht auf die mathematischen Figuren des Austauschs, Einsetzens und Nebeneinanderstellens, des Ableitens und Beweisens, stattdessen bezieht sie die Idee der Form auf ihr eigenes Spiel der Beobachtungen. In dieser Perspektive erscheinen die „Formen der Kommunikation“ (Baecker 2005) eher als Figuren der Kommunikation.
Unter dem bislang intuitiv gebrauchten Term „Figur“ soll im Folgenden kein Ding verstanden werden, das als Gestalt an ein spezifisches stoffliches, d.h. wahrnehmbare Formen anbietendes Medium gebunden ist, sondern ein Verweisungszusammenhang, der sich an Anschaulichem in auffälliger Weise vorführen lässt: Die Tintenstriche auf dem Papier zeigen, Hilberts geflügeltem Wort zufolge, Mathematik nicht, weil sie aus Tinte Gebilde anbieten, sondern, indemsie auf eine Weise aufgebracht werden, die – sofern diese Inskriptionen in einer entsprechenden sozialen Praxis eingebettet sind – Regelhaftigkeit erkennen lässt. Die Katachrese der „Figur“ – entlehnt aus den rhetorischen figurae sententiarum, den Gedankenfiguren im Unterschied zu den Wortfiguren (Elice 2007) – soll einen Aspekt der Ordnung bezeichnen, unter dem Gebilde betrachtet werden und als Anzeichen dieses oder jenes Sinnes geltend gemacht werden.
4. Form-Diagramme
Der Vorschlag lautet, die Form-Figuren, seien sie mittels einer barre oblique oder den Spencer-Brownschen Queren notiert, nicht als Formalisierungen zu begreifen, nicht als Vorarbeiten zu einer noch zu bauenden Kalkül des Sozialen, sondern als diagrammatische Symbolisierungen.[19]
Unter Symbolisierung sei hier[20] die Transkription von normalsprachlichen Ausdrücken in Spezialzeichenschriften verstanden (das einschlägige Beispiel ist die phonetische Schreibweise). Mit dem Diagrammatischen sei, mit Krämer (2009; 2016), ein Medium bezeichnet, welches, wie alle Zeichenmedien, allgemein Sinnliches[21] und Sinn unterscheidet und auf eben diese Weise verbindet. Die besondere Hinsicht dieser Unterscheidung im Falle des Diagrammatischen besteht darin, dass „Unsinnliches wie beispielsweise abstrakte Gegenstände und Begriffe in Gestalt räumlicher Relationen verkörpert und damit nicht nur ‚denkbar‘ und verstehbar, sondern überhaupt erst generiert werden“ (Krämer 2009, 9f.). Vertraute Beispiele sind Landkarten, Notenschriften, logische Notationen, Tabellen, Diagramme, Formulare, Fieberkurven, die zu heuristischen Zwecken gebraucht werden (können).
(Die Beobachtung durch) das Schema des Diagramms kombiniert folgende Unterscheidungen:[22] (a) Schriftbildlichkeit(Bild/Text), (b) Übersichtlichkeit (Flächigkeit/Zeitlichkeit), (c) Graphismus (Einzeichnung/Aufzeichnung). (d) Relationalität (Räumlich/Nicht-Räumlich) und (e) Gerichtetheit (Darstellung/Betrachtung).
(a) Diagramme sind schriftbildlich, d.h. sie kombinieren stets Texte (Legenden, Beschriftungen oder auch mündliche Erläuterungen etc.) und bildliche Elemente. Die Textanteile eines Diagramms sind nicht die Kommentare, die über das Zeigen eines Diagramms hinaus noch gegeben werden mögen. Das Schriftbild „System/Umwelt“ setzt sich zusammen aus den beiden Textbestandteilen ‚System‘ und ‚Umwelt‘, und dem Sonderzeichen der barre oblique, dem Schrägstrich, einer Linie, die nur deshalb als Teil der Schrift gelesen wird, weil der Schrägstrich eine eigene Taste auf der Tastatur hat. Die barre oblique gehört aber ebensowenig zum Alphabet der deutschen Schrift wie andere Bildzeichen, wie etwa ♥ oder ♫. Noch deutlicher wird die Diagrammatik der Zwei-Seiten-Form-Symbolisierungen in der „Häkchen“-Notation (vgl. Abb. 1):
(b) Diagramme sorgen, in einem wittgensteinschen Sinne, für „Übersichtlichkeit“,[23] indem sie Flächigkeit nutzen, um gleichsam zeitblinde Dauern zu ermöglichen. Das flache Nebeneinander der Elemente suggeriert ein Herunterfahren der Dreidimensionalität zur ebenen Fläche, einer Oberfläche, die kein „Dahinter“ bzw. „Darunter“ hat. Diese vorübergehende Dimmung des Erlebens von Räumlichkeit, verstärkt durch eine Körperlichkeit[24] des Sich-über-die Karten-Beugens, einer Körperhaltung, in der sich nur die Augen bewegen, fungiert als Entschleunigungsmechanismus: Diagramme bieten ihre Informationen nahezu auf einen Blick. Sie sind ein Beispiel dafür, wie der Eindruck der Gleichzeitigkeit durch die Gestelltheit von Objekten in (zwei- oder dreidimensionalen) Räumen plausibel wird.[25] Zwar muss auch hier der Blick von einem Element zum anderen, etwa von der einen Seite der Zwei-Seiten-Form zur anderen, wandern, aber die hierzu nötige Gedächtnisleistung ist weniger aufwändig als in diachronen Formen, das topologische-Register überlagert das vorher/nachher-Schema:
„Als körperliche Wesen sind wir der Macht der Zeit unterworfen; doch die inskribierte Fläche stiftet – jedenfalls ein kleines Stück weit – Macht über die Zeit“ (Krämer 2016, 16f.).
(c) Diagramme können als Graphismen beobachtet werden, als Formen, die zwischen Einzeichnungen und Aufzeichnungen oszillieren. Ihr zentrales Moment ist die Linie, von der „Kurve“ der Aktienkurse bis zum Queren-Zeichen der Laws of Form. Das Ziehen einer Linie („draw a distinction!“) ist eine Geste von „archaischer Einfachheit“ (Krämer 2016, 69), was zur qualitativen ‚Armut‘ der Kalküle der Laws of Form ebenso passt wie zu der Abstraktion des systemtheoretischen Begriffs der (Form der) Beobachtung. Zugleich hat eine der wirksamsten Formatierungen der systemtheoretischen Behandlung von Differenzen ihren Ursprung im Graphismus ihrer Notationen: die Metaphorik des Raumes, mithin die Idee der Grenze als Linie, als Hürde, die es zu überqueren gälte.
(d) „Diagramme“, so Krämer (2016, 70), „stellen Relationen mit Hilfe von Relationen dar.“ Das Besondere dieser Darstellungen liegt darin, dass nicht-räumliche Relationen durch räumliche Relationen behandelt, ausgedrückt, diskutiert werden können. Kein Mensch hat je einen Kreis (im mathematischen Sinne) gesehen, aber man kann nur über ausdehnungslose, perfekte mathematische Kreise sprechen, weil man einen Unterscheidung treffen kann zwischen einer gezeichneten Kreislinie und dem, was sie vorstellt.
(e) Die Gerichtetheit durch Diagramme hat zwei Aspekte: die selbstreferentiellen Bezüge ihrer Darstellung im Unterschied zu den fremdreferentiellen Bezügen ihrer Betrachtung. Die Darstellung ist ausgerichtet als Formatierung eines Raumes, der ein operatives Handhaben der Bildlichkeit erst ermöglicht. Ohne die Gepflogenheit, von links nach rechts zu schreiben, könnten die „Zeitpfeile“ in diagrammatischen Darstellungen nicht Fortschritt oder Rückschritt symbolisieren. Vom Leseerlebnis, dass sich bietet, wenn man nicht weiß, dass man Mangas von hinten nach vorne blättert, ganz zu schweigen. Die Konventionen der Schreibfläche (der Buchseite, des Bildschirms, …) richten jenen Raum aus, indem die Diagramme der Form Innen- und Außenseiten anbieten, der Leserichtungen des Degenerierens und Regenerierens erlaubt usw. Eine Form ist nicht an gerichtete Räumlichkeit, schon gar nicht an Flächigkeit gebunden – ihre diagrammatische Darstellung schon. Doch die Gerichtetheit der Darstellung bezieht sich nicht nur auf die selbstreferentielle Anordnung der Elemente zueinander, sondern sie ist zugleich eine gerichtete nur in Hinsicht auf eine Betrachtung, auf den Standpunkt der Beobachtung.
Schreiben und Lesen der Zwei-Seiten-Formen als Diagramme stiften eine “operative Bildlichkeit“ (Krämer 2009).
Der Beobachter wird, wenn er diese (durch das Arbeiten mit Diagrammen orientierte) Formwahl trifft, nicht zum Mathematiker, um Luhmann (1990, 74) zu paraphrasieren, sondern zum Designer, sofern „von Design immer dann die Rede ist, wenn eine Form auf ihre Funktion untersucht, gestaltet und verbessert wird“ (Baecker 2005, 265). Im Kontext von Design bedeutet Untersuchen und Gestalten, neben anderem, zeichnend, entwerfend zu denken (Krauthausen/Nasim 2010): Die Zeichnungen des Designs sind typischerweise keine Abbildungen (sie können natürlich als solche verwendet werden – und werden es auch, wenn etwa in Präsentationen nachträglich Gestaltungs-Genesen erzählt werden, in denen dann jene Entwürfe, die weiterverfolgt wurden, wie treffsichere Prognosen erscheinen), sondern Experimente, Erprobungen, die ihre Limitationalität sowohl, als Stimmigkeit, aus einem mit dem Künstlerischen verwechselbaren Schaffensprozess selbst beziehen, als auch aus dem Worauf-hin des Entwerfens. Das Erstellen und Anzeichnen und Ausprobieren und Umzeichnen von Zwei-Seiten-Formenarrangements entspricht genau diesem design-thinking (Mareis 2011; Joost et al. 2016).
5. Form-Design-Thinking
Aus der Perspektive einer diagrammatischen Heuristik erscheint die weiter oben unter logischen Vorzeichen hinbeobachtete „Unklarheit“ oder Unterbestimmtheit der Formalismus-Konstruktionsverfahren nicht als Makel, sondern als die Pointe des Orientierens am Formenkalkül – sofern man diese Orientierung nicht mit einer „Anwendung“ eines Kalküls verwechselt. Jene zugelassene Vagheit entpuppt sich dann als strenge Methode, die sich in die Aleatorik der Kommunikation verwickeln lässt und in Form von Formfindungsspielen, analog zu Wittgensteins Sprachspiel-Vergleichsobjekten, gleichsam von innen her, als re-entry, behandelbar macht, was sich nur zeigt.
Die obige Bestimmung von Design auf das Design der Form-Diagramme angewandt, kann man Fragen der Funktion und der Form unterscheiden, indem man sie aufeinander bezieht: Welches Bezugsproblem lässt sich konstruieren, als dessen Lösung diagrammatische Formfindung imponiert?
Das Bezugsproblem der Formdiagramme sind Probleme der Darstellung von begrifflichen Beziehungen: Die Systemtheorie verhandelt, wenn sie von Sinnformen, von Sinngrenzen spricht, Lagen, die noch nie ein Mensch gesehen hat.[26]
In der Sachdimension wird das Referenzproblem – die Verhandlung über operativ Wirksames, aber der Wahrnehmung Entzogenes – durch die diagramm-typische Leistung, nicht-sinnliche Relationen in sinnlich wahrnehmbare Relationen zu übersetzen, gelöst.[27]
In der Zeitdimension bieten Diagramme jene weiter oben beschriebene, vorübergehende Suspendierung der Zeit, sie frieren die flüchtigen Ereignisse, die immer im Begriff sind zu verschwinden, für eine Betrachtung ein, for the time being.
Die sinnzeitliche Stabilität der durch Flächen gestifteten Übersichtlichkeit – ihr Ruhen – hat auch Folgen in der Sozialdimension: Auf ein Diagramm können mehrere Augen gleichzeitig sehen. Dies kann in entsprechenden (z.B. auf Messbarkeiten getrimmten) Kontexten zu einem Argument eigenen Werts werden, wenn diagrammatisch präsentiertem Wissen eine Aura des Überprüfbaren eingeräumt wird, die nicht an die vom Diagramm gezeigte Information gebunden ist.
Das durch Diagramme gelöste Darstellungsproblem besteht also darin, dass sich Sinngrenzen nicht veranschaulichen lassen, sie sind nicht einfach nur ‚unsichtbar‘, d.h. noch vor unseren Augen verborgen, aber irgendwie doch zu entbergen, sondern sie sind nicht-sichtbar, sie haben weder Ausdehnung noch Gewicht. Man kann, um ein wunderbares Gleichnis von Stanley Cavell zu gebrauchen, von einer Seite der Unterscheidung zur anderen so wenig hinüber gehen „than you can go from France to Paris. There is no distance (of that kind) between them” (Cavell 1979, 323).
Die heuristische Leistung der funktionalen Methode, d.h. der Konstruktion eines Bezugsproblems, als dessen Lösung fragliche Phänomene gedeutet werden können, besteht in der Eröffnung von Vergleichsmöglichkeiten: Was käme ebenso in Frage?
Die Systemtheorie behilft sich, um das Problem unsichtbarer, nur abduktiv erschließbarer Verhältnisse zu verhandeln, wie die Mathematik durch die Beibringung von Gleichnissen.[28] So, wie die Graphitberge, die von einem Zirkel durch eine Drehbewegung auf dem Papier verteilt werden, eine Vorstellung davon geben, was mit dem idealen, mathematischen Begriff der Kreislinie gemeint ist, auch wenn niemand je einen „mathematischen“ Kreis gezeichnet und gesehen hat, so diskutiert die Systemtheorie anhand von wahrnehmbaren Gebilden Fragen der Form, unterscheidet „Innenseiten“ und „Außenseiten“ usw.
Von der Mathematik, oder vielmehr von den Laws of Form, übernimmt die Theorie allerdings auch deren Umgang mit dem Wort „Beispiel“, d.h. sie führt ihre gleichnishaften Hilfskonstruktionen als Beispiele, als (Einzel-)Fälle-von-…, ein.[29] Das paradigmatische (und folgenreichste) Gleichnis sind jene Kreisbilder auf einem Blatt Papier, die Spencer-Brown zu Zwecken der Illustration schon in der Erläuterung seiner definition als „example“ ins Spiel bringt (Spencer-Brown 1979 1), und die selbst zu zeichnen der Leser in den Laws of Form aufgefordert wird (1979, 70f.). Jene „Systemkreise“ sind ein, ja, das dominante funktionale Äquivalent zu den oben beschriebenen Form-Diagrammen[30]. Die Schwäche dieser Kreise-Hilfskonstruktionen ist ihre suggestive Stärke, denn so sehr man auch betont, dass das Kreislinien-Gleichnis zusätzliche, allein der Darstellungsweise geschuldete Voraussetzungen macht, die den veranschaulichten ideas [31] nicht wesentlich seien, so wenig lässt sich doch damit ausschalten, dass negative Sprachmuster in der Vorstellung ‚abgeblendet‘ werden, wie in einer Art banner blindness: „Denken Sie jetzt nicht an einen Kreis“ – und schon tut man es gerade drum. Das Verständnis der Zwei-Seiten-Formen ist von Beginn an durchtränkt von Räumlichkeitsmetaphern, die zwar thematisch eingefangen werden durch Hinweise (üblicherweise auf den Torus-Donut und die Möbiusschleife[32]) und andere begriffliche Korrekturmaßnahmen (wie der vorliegenden), aber operativ sind sie da schon längst im Gange. Dieses Bild – die Kreislinie als Grenze, innen das Wichtige, draußen nicht – hält, um Wittgenstein zu paraphrasieren, nicht wenige Durchführungen der Systemtheorie gefangen: „Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns unerbittlich zu wiederholen“ (Wittgenstein 2003, §115).
Das topologische Zugleich des Trennens und Verbindens zweier Bereiche („insgeheim“: Flächen), welches durch das Bild der Kreise und der Kreislinie als Grenze gestiftet wird, zusammen mit der Verwechselung der Gleichnisse mit Beispielen,[33] richtet eine operative Vorentscheidung ein, den beiden Seiten einer Grenze einen Eigen-Stand, ein Auch-ohne-einander einzuräumen, was andererseits thematisch, in der theoretischen Rede über Formen, durchaus abgewiesen wird. Doch da ist die räumliche Prägung des begrifflichen Urteils durch das ästhetische längst erfolgt.
Diese räumliche Vor(ein)stellung liefert sofort allzu plausible Beispiele dafür, woran man Unterschiede registrieren kann: die Grenzlinie, die Palisade, der Gatterzaun, die Membran, die überwunden werden müssen. Grenzen sind dann wie Zäune in der weiten Prärie, die dem Herumreiten eine Richtung geben, auf den Zaun zu oder von ihm weg, man kann am Zaun entlang reiten oder darüberspringen. Die Räumlichkeitsmetaphorik supponiert eine Topologie von Systemen, die wie Häuser in der Weltgegend herumstehen, mit Gärten als höchstrelevante Umwelten, in der weiteren Umgebung finden sich dann auch andere Häuser, und zwischen den Bewohnern der Gebäude kommt es ab und an zu gegenseitigen Irritationen übers Telefon – natürlich besuchen sich die Bewohner niemals, denn man lebt ja operational geschlossen im systematischen Dauer-Lockdown. Strukturelle Kopplungsverhältnisse erscheinen wie Doppelhaushälften, die zwar zusammenstehen, Wand an Wand, aber auch allein (be)stehen können, etwa, insofern man sie unabhängig voneinander einzeln vermarkten und bewohnen kann. Das legt Vorstellungen nahe, die Grenze gehöre wie eine Trennwand, je nach Standpunkt, mal zur einen Seite, mal zur anderen Seite, und nehme folgerichtig selbst einen Raum ein:
„Grenze: Der Raum, Zustand oder Inhalt, in dem Innenseite und Außenseite eines Unterscheidens zusammentreffen / getrennt werden, soll Grenze genannt werden. Aus einer Beobachtungsperspektive auf der Innenseite des Unterscheidens (…) gehört die Grenze zum Phänomenbereich der Innenseite. Aus einer Beobachtungsperspektive auf der Außenseite des Unterscheidens (…) gehört die Grenze zum Phänomenbereich der Außenseite“ (Simon 2018, 17).
Aber wenn die Wand, die Membran, die Linie die Grenze bilden, wo ist dann die Grenze dieser Grenze, deren Rand? Solche Bilder bieten eine Anschaulichkeit, deren schienende Wucht für weitere Überlegungen nur schwer auszugleichen ist. Sie legen nahe, Systeme und Umwelten, die Werte eines Codes, ja, schon die Abzählbarkeit von diesem Code, jenem Code, Distinktionen, usw. als autonome Eigenständigkeiten zu denken, die nur gelegentlich zu einer „Differenz“ zusammengestellt werden.
Genau hier kommt der Design-Vorteil der diagrammatischen Symbolisierung gegenüber den (hinsichtlich der Darstellungsproblematik funktional äquivalenten) „Kreis-Beispielen“, aber auch gegenüber der Deutung der Diagramme als Formalisierungen, zu tragen. Denn Diagramme fungieren nicht als Abbildungen, sie stehen in keinem ikonischen Bezug zu ihrem Gegenstand, sie legen keine Ähnlichkeiten nahe. Sie brauchen nicht die ‚realen‘ Verhältnisse wiederzugeben, und sei es die des real vorliegenden Referenztextes der Laws of Form, sondern stellen nur ‚mögliche‘ Beziehungen dar.[34] Sie sind zudem, anders als etwa das Kreis-in-seiner-Umgebung-Paradigma, ohne Erläuterung, ohne Legende nicht verständlich,[35] die ästhetische Plausibilität kommt dem Verständnis der Erklärung des Diagramms nicht zuvor.
Es lässt sich vereinbaren, wie das Diagramm zu lesen ist, und damit, wie die Grenzen einer Sinnform anders diskutiert werden können als in einer Metaphorik des Raumes. Eine Suggestion durch eine andere ersetzend bietet sich mit Luhmanns zeitlicher Bestimmung von Grenzen als Änderung der Fortsetzbarkeitsbedingungen von Operationen (Luhmann 1984, 36) ein Grenzbegriff an, der eher zum operationalen Verständnis der Theorie passt; ich zitiere die nachgeschärfte Version von Peter Fuchs (2016, 172):
„Die Grenze ist die Beobachtung der Änderung von Fortsetzbarkeitsbedingungen. Sie ist nicht eine ‚Drittheit zwischen hüben und druüben‘, sondern eine auf Diskontinuierung von Kontinuitäten achtende Lesart sinnförmigen Geschehens.“
Aus der Grenze als hier/dort wird so ein erst-so/dann-anders. Aus dem abrupten Wechsel der strikt binär gedachten entweder-oder-Grenze wird ein Wandel der kontinuierlichen Zunahme und Abnahme von Kontrasten. Die binären Codes, mit denen die Spuren der Funktionssysteme nachträglich hinbeobachtet werden, erscheinen vor dem Hintergrund eines solchen verzeitlichten Grenzbegriffs nicht als Normalfall, sondern als (evolutionär erfolgreicher) Spezialfall einer grundlegenderen Vagheit, welche diese Randschärfe bedingend ermöglicht. Die Legendenabhängigkeit von Diagrammen ermöglicht also, räumliche Verhältnisse der Darstellung dezidiert als Anzeige zeitlicher Relationen zu verstehen. Gelingt es, zu verlernen, Grenzen als den Schied von innen und außen zu deuten,[36] dann ist das Styling der Form-Diagramme – bei aller diagrammtypischen Gebundenheit an die Einschränkungen und Möglichkeiten der räumlichen (flächigen) Darstellung – weniger auf ein ungewolltes, ästhetisch geschientes (Vor)Verständnis der Grenze als Form-Membran und dessen verdinglichenden Effekte festgelegt als etwa die notorischen Systeme-Kreise. Im Diagramm kann qua Legende verabredet werden, die Quere- und re-entry-Linien als Komponenten nicht der Form, sondern ihrer Symbolisierung zu deuten;[37] die Grenze, angezeigt durch die Quere, ist nicht ein Bestandteil der Form wie Bezeichnung und Unbezeichnetes, sondern jene Operation, die beide Bestandteile überhaupt erst hervorbringt.
Unter der Annahme, die Funktion der Formdiagramme sei die sinnliche (räumliche) Relationierung von unsinnlichen Relationen, ja, vielleicht sogar Moment von deren Generierung, kann man die Form dieses Designs mit Blick auf diese Funktion diskutieren (s. Abb. 2, aus: Baecker 2005).
Abb.2: Das Formdiagramm „Design“
Ich möchte den vielen verfügbaren Aufzählungen der „Komponenten“ (vgl. etwa Karafillidis 2010, 81) einer Form – typischerweise mit Pfeilen, die auf die Komponente „Grenze“ zeigen, oder mit bauplanartigen Durchnumerierungen der Komponenten – nichts hinzufügen, außer der Anmerkung, dass solche Erläuterungen im Zuge des Gebrauchs dieser Gebilde als Diagramme zu Legenden werden, welche die Codierung der verwendeten Elemente festlegt.[38]
Während das Gebilde in Abb. 2, als notierter Formalismus gebraucht, eine Leserichtung anbietet (das „=“-Symbol, als Anzeige der Vertauschbarkeit bestimmt, verweist auf die Möglichkeit, Formalismen wie in den Laws of Form von links nach rechts oder umgekehrt zu lesen), werden Diagramme nicht „gelesen“, sondern betrachtet, und der Blick darf wandern wie auf einer Landkarte. Es ist weniger eine Frage der Vereinbarung, sondern der Wahrnehmungspsychologie, dass der Betrachter durch die diagrammtypische Mischung aus Schrift- und Bildanteilen oszilliert zwischen dem Versuch, sich ein Bild von den symbolisierten Zusammenhängen zu machen, und dem Fokussieren auf vertraute(re) Muster, den Schriftzeichen. Der Versuch, das Diagramm wie einen Text zu lesen – es scheint um „Design“ zu gehen, um „Funktion“ und „Form“, das kann man, vorläufig, als gesetzt betrachten – wird konterkariert durch die diagrammtypischen Bewegungslinien. Wenn es gelingt, die übliche „Lesart“ zu verlernen, die im Inneren der Form beginnen würde, – also hier: mit dem, wie man sagen würde, durch die Grenze (Quere) gestifteten ‚Zusammenhang von Funktion und Form‘, und der damit einhergehenden Verräumlichung dieses Zusammenhangs als ‚Innenseite‘ und ‚Außenseite‘ – dann irritiert als Erstes nicht die Quere, sondern die größere und ungewöhnlichere Gestalt jener Linie, die den Blick als Bewegungslinie um die Form herumführt hin zu ihrem Eintritt. Mit anderen Worten, die Registratur des Ausdrucks rechts vom „=“-Symbol setzt mit dem Symbol des re-entrys ein, nicht mit dem Symbol der Grenze.
Die re-entry-Linie fungiert als Navigationshilfe wie jene Linien auf dem Boden, die in manchen Flughäfen den Weg zum Gate leiten. Man bekommt es mit dem re-entry zu tun, bevor man die Form überhaupt betritt, ja, der re-entry führt den Betrachter überhaupt erst zum Eingang hin. Das passt zu jenen Prozessen der Formfindung, die sich im Designprozess in nuce zeigen, aber vielleicht für alle möglichen kreativen Episoden verallgemeinert werden können: was als Anfang erscheint, entpuppt sich als Eintritt in ein Sinngeschehen, dass sein eigenes Vorbereitet-Worden-Sein verdeckt. In diesem Sinne formuliert Peter Fuchs (2018, 119):
„Triff eine Unterscheidung – an! Sie ist schon längst gewesen, wenn sie angetroffen wird. Sie begegnet als Zitat.“
Die getroffene Wahl einer Form mag ihr Wovon-her verdecken, sie wird erlebt als Inspiration, aus dem Nichts kommend, dem unmarked state, einem formlosen Grund. Dem entsprechend pflegt die Literatur rund um die Laws of Form in Sachen Kreativität eine Art Urknall-Semantik: die „erste“ Unterscheidung entsteht, als anfangsloser Anfang, durch das Ziehen einer Grenze in einem Raum, der so, in actu, aus dem „Nichts“ er-spalten wird.[39] Die alltägliche Erfahrung lehrt eher Anderes: Es war alles schon mal in einer ähnlichen Weise da – sonst würde man Neues nicht als Neues, d.h. in seinem Bezug zum, dann, Überkommenen, registrieren.[40] Einfälle sind, so die hier vorgeschlagene Perspektive, immer auch zugelassene Zufälle, jeder ‚neue‘ Entwurf ist zugleich auch ein Zitat mit Kopierfehler, also in einer spezifischen Weise unorginell. In den Formen, die uns ein- oder besser zufallen, wird explizit (und dadurch der Analyse, Rekombination, Nachschärfung, Transformation zugänglich), was wir je immer schon als soziale Praxis verinnerlicht haben, indem wir die angelieferten Formen der Verlautbarungswelt zu Chiffren des Denkens und Erlebens einsozialisieren. In diesem Sinne entdeckt die schreibende und betrachtende Beobachtung der Form des Designs ihre eigene kriteriale Gestimmtheit wieder, wenn sie Figuren als Design-Formen, und diese Formen unter den Aspekten der Form oder der Funktion untersucht und diskutiert.
6. Vorläufiges, nachträglich
Design-Thinking, nicht nur bezogen auf Fragen der Gestaltung im Kontext des professionellen Designs, sondern übertragen auf Formfindungen der Theoriearbeit im Allgemeinen, schafft vorübergehende, „vorbereitete Umgebungen“ (Maria Montessori) für theoretische Gelegenheiten, die sich ergreifen lassen.[41]
In dieser Perspektive imponieren die komplexen Designs der Formarrangements wie in Baecker (2005) und (2013) als Orientierung von Beobachtungen, und sie wirken auf die Formen des Beobachtens zurück, nicht zuletzt, indem die so angestifteten Beobachtungen gewinnbringend als semantische Interpretationen der in den Spencer-Brownschen consequences (bzw. der sich in diesen consequences zeigenden Denkfiguren) verstanden werden können (auch wenn diese Leserichtung genau umgekehrt verlaufen mag im Hinblick auf die ursprüngliche Intention, den Kalkül „anzuwenden“; aus Indienreisen werden eben manchmal Amerikabesuche, as we sail along).
Formdiagramme, insbesondere in Verbindung mit der Interpretation der Grenze als Wechselmoment von Fortsetzbarkeitsbedingungen, sind geeignet, Formfiguren der Beobachtung zu symbolisieren und (leichter) verhandelbar werden zu lassen.
Das Sichten, Sammeln und Zusammenstellen ihres Materials, das im Zuge des Designens einer Form erfolgt, kommt nach und nach mit Alternativen, mit Abweichungsmöglichkeiten in Kontakt: Je mehr man über eine Lage in Erfahrung bringt, desto mehr weiß man, wie wenig man weiß. Formen warten nicht einfach auf ihre Bezeichnung, sie sind nicht schon da, sonst wäre ihre Formung überflüssig. Das Ausprobieren und Verwerfen von Formendiagrammen erzeugt nach und nach Typologien, Generalsierungen, und ermöglicht so Vergleiche. Die Arbeit mit Formendiagrammen ersetzt dabei nicht die Wahrheitsfindung in der soziologischen Wissenschaft durch die bloße Übereinstimmung der Meinungen bzw. den Konsens der gemeinsamen (Drauf)Sicht, ebenso wenig wie die Entwürfe und Studien des Industrie-Designs nicht schon die Serienproduktion ersetzen; das Erarbeiten von und Diskutieren mittels Formendiagrammen kann aber als zusätzliche Methode dazu beitragen, durch vergleichende Orientierung an sichtbaren Relationen kontrollierte begriffliche Unterscheidungen zu treffen, um so eine „vernünftige Basis für gemeinsame Argumentation zu konstituieren“ (Stekeler-Weithofer 1986, 61). Ihr heuristischer Wert für eine Nächste Theorie liegt vielleicht weniger in ihrem Mitgeteilt-Werden in einsam verfassten Artikeln wie dem vorliegendem, sondern in einer gemeinsamen Praxis des Gesprächs, des Herumprobierens, des Formstormings, an Tafeln,[42] auf Tablets, auf Servietten oder, wie einst, mittels in den Sand der griechischen Küste gezeichneter Formen.
Endnoten
[1] Diese Formen-Figuren haben seit Baecker (2021) womöglich auch einen zitierbaren Namen: „Katjekte“, einem Kofferwort, das sich aus den Ausdrücken „Kategorie“ und „Weder-Subjekt-noch-Objekt“ – ähnlich dem von Peter Fuchs (2001) geprägten Neologismus „Unjekt“ – zusammensetzt. ‚Womöglich‘, da das Büchlein von Dirk Baecker nach dem Abfassen dieses Beitrages erschien, und keine Zeit mehr blieb genauer zu untersuchen, wie eng das Programm der Katjekte (noch) mit dem hier besprochenen Projekt eines ‚Kalküls des Sozialen‘ verknüpft ist, oder vielmehr schon Moment jener diagrammatischen Umorientierung sind, welche der vorliegende Beitrag vorschlägt.
[2] Vgl. etwa Luhmann (1990, 718): „Unterscheidungen dienen als Zwei-Seiten-Form der Dirigierung des Bezeichnens, Referierens, Anknüpfens.“ Bei Luhmann ist durch diesen Begriff auch dessen weitere Komplizierung vorbereitet: Die „nur einseitig verwendbare Zwei-Seiten-Form“ (Luhmann 2002, 72), also strikt asymmetrische Formen, die nur auf einer Seite wiedereintrittsfähig sind, also z.B. Sinn, Welt, Realität. Die Unterscheidung Sinn/Nicht-Sinn etwa ist selbst immer nur als eine Sinnform zu (hand)haben: Nicht-Sinn (oder Unsinn) mag dann zwar Quatsch sein, aber eben als solcher Sinn ergeben. Im Folgenden geht es aber nur um Fragen der Darstellung von Formen im Allgemeinen, um eine Beobachtung ihres Gebrauchs im Unterschied zu anderen, auch möglichen Darstellungen und darum, welche womöglich unbemerkten Schienungen der Theorieentwicklung durch diese Gebrauchsweisen vorbereitet werden mögen.
[3] Vgl. Luhmann (1990, 74): „Der Beobachter wird, wenn er diese Formwahl trifft (wenn er mit Intention auf sie unterscheidet), zum Mathematiker. Ein Beobachter hat aber auch andere Möglichkeiten des sequentiellen Operierens; er kann andere Werte verfolgen, andere Gegenstände, andere Erkenntnisweisen bevorzugen. Die Mathematik ist nur eine Form des Beobachtens, die wir im folgenden weitestgehend außer acht lassen werden. (…) Der Abstraktionsgrad dieses Ansatzes erlaubt es schließlich, und vor allem deshalb greifen wir auf Spencer Brown zurück, zu erkennen, daß auch Logik und Mathematik Kondensate und Regulative sozialer Operationen sind – sofern es nur gelingt, den Beobachter als zeitbeständiges selbstreferentielles System zu etablieren.“
[4] Vgl. z.B. diese ‚Formel‘ aus einem Artikel im Manager Magazin (April 2018) über eine internationale Club-Kette: „Die Zutaten für den Erfolgscocktail sind immer die gleichen: Gebäude + Leute + Design = Atmosphäre.“
[5] Es sei an dieser Stelle betont, dass im Folgenden der systemtheoretische Umgang mit der Figur der Form nicht unter dem Aspekt bewertet werden soll, ob und wie sehr er von (meiner Interpretation von) ‚Grundgedanken‘ der Laws of Form abweichen mag; die Laws of Form bieten keinen Lackmustest für gute Systemtheorie. Der vorliegende Text versteht sich als Beitrag zur soziologischen Systemtheorie, nicht zur Philologie der Laws of Form.
[6] Auch wenn es vielleicht unentscheidbar ist, ob die first distinction – die bezeichnende Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung – bei Spencer-Brown (1979, 3) ein Negationsverhältnis realisiert (Hennig 2000; Hoegl 2021) oder die ins-Werk-gesetzte Form einem solchen vorausgeht (Luhmann 1990; Lau 2005; Schönwalder-Kuntze et al. 2009; Esposito 2011), so lässt sich doch zeigen, dass sich Luhmanns Formbegriff durchaus dem Unterscheiden „durch Negation“ (Wille 2007, 35) verdankt. Die Rede von „dem“ Formbegriff der Systemtheorie legt dabei eine Einheitlichkeit nahe, die sich weiter differenzieren lässt, wenn man etwa den unterscheidenden Zusammenhang der Seiten einer Form unter dem Aspekt verschiedener Negationsweisen betrachtet, denn „nicht alles wird auf gleiche Weise negiert“ (Esposito 1991, 47). Die Systemtheorie bietet mindestens drei Typen von Unterscheidungen qua Negation, die allesamt als „Form“ bezeichnet werden: Die Form der Referenz (einwertige, unbestimmte Negation: dieses/…), die bivalenten Zwei-Seiten-Form(en) der Beobachtung (vgl. Kron/Winter 2005), nämlich semantische Duale (konträre Negation: dieses/jenes – es kann nicht beides zugleich der Fall sein, aber man kommt durch Negation des einen Relats nicht zwangsläufig zurück zum anderen) und ‚echte‘ dichotomische Oppositionen (kontradiktorische Negation, tertium non datur: dieses/nicht-dieses). Zur Unterscheidung von Referenz als reflexionsfreies Bezeichnen und Beobachtung als Benutzung einer Unterscheidung „zur Gewinnung von Informationen über das Bezeichnete“ vgl. Luhmann (1984, 596f.).
[7] Um Missverständnissen vorzubeugen: ich argumentiere hier auf der formalen Ebene („formal“ hier im Sinne des Luhmannschen Formbegriffs). Dass man inhaltlich gerade nicht durch die Gebundenheit jeder Äußerung an eine Beobachtungsperspektive kürzen kann, ohne den Anspruch der Soziologie auf empirisch brauchbare Beschreibungen aufzugeben, ist selbstverständlich; gerade in der Rekonstruktion dessen, wer (Diskurs, System, s...) welche Unterscheidungen reproduziert (und auch, welche nicht), liegt ja die deskriptive Pointe der Einführung des Beobachtungsbegriffs. Hier geht es aber nicht darum zu diskutieren, welchen Unterscheidungspfaden sich Nennungen wie „die Regierung“ oder „das System“ verdanken, sondern, ob die fragliche Notationsweise einfach eine Ausführung der primären Algebra mit anderen Mitteln sei, mithin, was denn im Formenkalkül für die Buchstaben eingesetzt werden darf.
[8] Auf die Beobachtung unterschiedlicher Thematisierungen mittels Unterscheidungen kommt es dem soziologischen Interesse an Unterscheidungen freilich an, und das zentrale, wenn auch nicht einzige Medium dieser beobachteten Beobachtungen bildet die Sprache: Ohne die Benennung der jeweiligen Seiten könnte man Unterscheidungen schwerlich auseinanderhalten. Die Unterscheidungen der Laws of Form handeln dagegen von: . (Also „nichts“).
[9] Deshalb verfängt auch nicht der denkbare Einwand, jener weiter oben diskutierte „Hinweis“, Namen, Sätze, Texte, Diskurse, die sich auf komplexe Sachverhalte beziehen, seien gleichsam Aufführungen der formalen Figur des unwritten cross, der „ungeschriebenen Quere“ (vgl. Varga von Kibéd/Matzka 1993, 84f.). Denn die auch ungeschriebenen Quere vollzieht sich allein im Kontext der beiden im Kalkül benennbaren Zustände: „markiert“ und „nicht-markiert“. Die Platzhalter der primären Algebra stehen nicht für dieses oder jenes in der Welt und/oder im Kalkül, sie können nicht verschiedene Unterscheidungen behandeln (nicht: Mann/Frau, Mann/Kind, Mann/Badewanne, Regierung/Opposition, System/Umwelt, marked/unmarked), sondern immer nur diese eine: marked/unmarked.
[10] Das ist kein neuer Befund, vgl. Hennig (2000). Der einzige Kontext, in welchem Spencer-Brown tatsächlich Variablen durch Wörter und ganze Sätze ersetzt, findet sich im Appendix 2, wo eine Interpretation des Kalküls für die Aussagenlogik vorgeführt wird. Diese logische Interpretation bietet jedoch ebenfalls keine Mustervorlage zum Gebrauch der Zwei-Seiten-Form, denn die soziologische Formentheorie interessiert sich ja nicht für die Notation der Laws of Form, um logische Schlüsse leichter zu prüfen oder eleganter anzuschreiben. Gerade die von Spencer-Brown vorgeführte, sozusagen erz-mathematische Loslösung des „Rechnens“ von der wahrheitsfunktional getrimmten Logik macht seinen Kalkül für eine Beobachtung zweiter Ordnung, die sich die Naivität erlaubt (und die im nächsten Moment mit weiteren Unterscheidungen beobachten werden kann), Beobachtungen hypothetisch auf ihre möglicherweise operativ wirksamen Unterscheidungen hin zu beobachten, ohne dabei den anfallenden Beteiligten wertend ins Wort zu fallen, grundsätzlich interessant. Zudem bleibt von den vielen Besonderheiten des Formenkalküls, sobald man ihn für die Aussagenlogik interpretiert, nur dessen Notation (samt ihrer vielen Vorteile – der „Leere“, der topologisch invarianten Notation und des Operators mit beliebiger, endlicher Stellenzahl der Argumente; Varga von Kibéd/Matzka 1993, 82) ‚übrig‘, ansonsten verhalten sich die derart notierten Argumentationen – dann – wie jede klassische, zweiwertige, wahrheitsfunktional gebaute Logik.
[11] Unter „Punktsprache“ versteht man in der Theorie der Formalisierung den Sprachgebrauch eines Sprechers zu einem bestimmten Zeitpunkt (vgl. Blau 1978, 2).
[12] Etwa jener, die Seitenmarkierungen der Zwei-Seiten-Formen vorzugsweise als Substantive – „Zahlung/Nicht-Zahlung“ – anzulegen, ohne dass diese grammatikalische Wahl eigens thematisiert und mit Blick auf mögliche nicht-intendierten Schienungen der sich anschließenden Überlegungen problematisiert würde.
[13] Die in Baecker (2005, 64f.) gegebene Regel – „Um die Arbeit mit der Notation des Formkalküls zu erleichtern, halten wir uns im Folgenden weitgehend an die Regel, die Operation auf der Innenseite und den Kontext der Operation auf der Außenseite der Form zu notieren“ – bezieht sich eben nur auf die Notation von Ausdrücken, der „eigentliche“ Vorgang der Formalisierung ist dann schon gelaufen, indem er übersprungen wurde, nämlich, das Zuschneiden des prallen sozialen Geschehens in – dann! – symbolisierbare Formalismen. Dazu weiter unten mehr.
[14] Um ein Beispiel für die Kontingenz von Formalisierungen zu geben (vgl. Brun 2003, 197f., der Formalisierungsfragen an einem anderen, formgleichen Fall diskutiert): Damit eine Punkt-Aussage wie „Sinnlose Formen gibt es nicht“ prädikatenlogisch bearbeitet werden kann, muss sie in eine explizite Fassung umgeschrieben werden, die zu den Eigentümlichkeiten prädikatenlogischer Formalitäten passt, z.B.
(A1) „Es ist nicht der Fall, dass {für irgendein x: [(x ist sinnlos) und (x ist eine Form)]}.“
Der Punktsatz ließe sich aber auch anders paraphrasieren, z.B.:
(A2) „Es ist nicht der Fall, dass: (für irgendein x: x ist eine sinnlose Form)“.
Beide Fassungen unterscheiden sich darin, dass sie die umgangssprachliche Aussage auf andere Weise in logisch relevante Einheiten aufteilen. Welche Paraphrasierung zu wählen ist, entscheidet sich an den Zwecken der gesuchten Formalisierung. Und je nachdem, wie die Explizitfassung aus dem punktsprachlichen Sachverhalt gewinnen wurde, ergeben sich andere Symbolisierungen, d.h. die Ersetzung der Einheiten durch Symbole passender Kategorien der Formalsprache. Für (A1) sähe die Symbolisierung so aus:
(S1) Ø ∃x [f(x) ∧ g(x)] mit der Semantik f(x): x ist sinnlos; g(x): x ist eine Form.
für (A2) so:
(S2) Ø ∃x f(x) mit der Semantik f(x): x ist eine sinnlose Form.
[15] Dies umso mehr, als die Formalismen der Systemtheorie in praktischen Verbalisierungstests, also dem Versuch, vom formalen Ausdruck wieder zur normalsprachlichen Beschreibung zurückzugelangen, in Schwierigkeiten geraten. Die logische Analyse im Rahmen einer case study in Oksas (2022) führt exemplarisch vor, dass die normalsprachlich beschriebenen Verhältnisse zwischen den Relata der Form komplexer sind, als es die Form in ihren Negationskaskaden zu sehen gibt.
[16] Das betrifft also die Frage, in welchem Medium eine Mathematisierung des Sozialen ihre Formen einzeichnen könnte: „Soweit ich sehe, kann nur das Konzept einer in Ereignisse temporalisierten Kommunikation, das Niklas Luhmann (1984) vorgeschlagen hat, als eine Antwort auf diese Frage gelten“ (Baecker 2003, 133).
[17] An dieser Stelle wird üblicherweise darauf hingewiesen, dass man zum Queren der Grenze „Zeit brauche“, mit dem Re-entry Zeit als zusätzliche Dimension der Betrachtung eingeführt werde, usw. Aber zum einen braucht auch jede überschlagende Kopfrechnung beim Einkaufen Zeit, ohne dass dadurch „Zeit“ in die dabei verwendete Arithmetik eingebaut würde. Zum anderen wird Zeit in den Laws of Form thematisiert und in Formen übersetzt, aber dadurch hat man es m.E. ebenso wenig mit einem ‚verzeitlichten Kalkül‘ zu tun, wie es bei geläufigeren Modalisierungen „temporaler Logiken“ (z.B. von Weizsäcker 1992) der Fall war. Ein verzeitlichter Kalkül müsste sich während des Schreibens und Lesens verändern, die Zeichen selbst müssten zu tanzen beginnen, wie in James Krüss‘ Gedicht vom Zauberer Korinthe und seiner Zaubertinte.
[18] Vgl Fuchs/Hoegl (2011, 205): „So gesehen, dienen die Laws of Form dem Meister der Ernüchterung, Niklas Luhmann, als Pool für Metaphern, mit deren Hilfe er das ‚Gründeln’ und das ‚Grübeln’ vermeiden konnte, das sich einstellt, wenn man Einheit und Differenz bis in die ‚Tiefe Null’ verfolgen will. Die damit implizierte These ist, dass Luhmann die Laws of Form als Thesaurus für brauchbare Metaphern nutzt und nicht: als Kalkül, nicht als Möglichkeit, soziologische Theorie zu formalisieren.“
[19] Vgl. hierzu Carnap (1968, 173): „Die beiden vorhin genannten Verfahren [Formalisierung und Symbolisierung, F.H.] sind unabhängig voneinander. Man kann auch eine Wortsprache formalisieren, indem man Umformungsregeln einführt, die sich auf die logischen Wörter ,und', ,oder', ,nicht', ,jedes' usw. beziehen anstatt auf die entsprechenden Symbole. Ferner kann man auch die Sprache teilweise oder ganz symbolisieren, ohne zu formalisieren, d. h. ohne syntaktische Umformungsregeln anzugeben.“
[20] Das heißt, dass sich dieser Begriff der Symbolisierung nicht auf den Luhmannschen Symbolbegriff (ein Symbol bezeichnet die eigene Funktion mit und wird so von anderen Zeichen unterschieden) bezieht, sondern auf die mathematiksprachliche Unterscheidung Symbolisierung/Formalisierung.
[21] Ein prominenter, beispielhafter Fall eines Zeichenmediums ist die Schrift. Wer schreiben und lesen will, darf das geschriebene Wort nicht mit der Rolle verwechseln, die es in einem Satz spielt, um zum Sinn des Satzes beizutragen. Typisch für Zeichenmedien ist ihre Schematizität, d.h. ihre Realisierung ist auf kein spezifisches Substrat angewiesen. Man kann ein Diagramm mit dem Stift auf ein Papier bringen, oder mit einem Taschenmesser in eine Baumrinde ritzen.
[22] Der vorliegende Vorschlag weicht leicht von der Diagrammatik in Krämer (2016) ab, die anders gewichtet und statt Differenzen Einheitsbegriffe wählt. Zum Verhältnis von Diagrammatik und Logik vgl. auch Stekeler-Weithofer (1986).
[23] Vgl. Wittgenstein (2003, § 122): „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Ist dies eine ‚Weltanschauung‘?).“
[24] Vgl. zur Einspeisung von „Zeitlichkeit“ in Sinnsysteme via Körper Fuchs (2015, 61): „Er (der Körper, F.H.) liefert chronobiotisch fungierende Hysteresis an. Für das psychische System ist er der Entschleuniger par excellence. Der Körper versorgt die Psyche mit Dilatation, mit einer als minimaler Raum lesbaren Zeitdehnung, in der ein Vorher/Nachher gleichsam übersetzt wird in eine (spatialisierende) Abständigkeit des Gleichzeitigen, durch die Identität und Differenz überhaupt erst in die Zone der Unterscheidbarkeit geraten.“
[25] Vgl. Fuchs (2015, 85): „Raum ist die Ordnung der Stellbarkeit von Objekten in einem ‚Zugleich‘.“
[26] Vgl. Fuchs (2009, 6): „Sinnsysteme, seien sie psychisch oder sozial, inszenieren nicht nur eine Realität sui generis, sondern sie sind im Blick auf ihre Operativität eigen-artige Reproduktionen je spezifischer Differentialitäten, und Differenzen sind keine Dinge, haben keine Materialität, nehmen keinen definierten Raum ein. Sie haben kein physisches Eigen-Gefüge, keine Atome, keine Elektronen, aber auch keine Zellen. Soziale und psychische Systeme lassen sich nicht wiegen und nicht auf ihre Masse hin prüfen. Oder anders ausgedrückt: Sinnsysteme sind in ihrer Operativität weder sichtbar noch unsichtbar.“
[27] Vgl. Aristoteles zum Verhältnis von sinnlich wahrnehmbarer Figur und den mathematischen Gegenständen der Rede: „Wir benutzen das 'dieses-da-sein' (von etwas) zu nichts weiter, sondern (machen es) wie der Flächenmesser, der da sagt: Dieser Strich ist 1 Fuß lang, gerade und ohne Breite, – wo sie's doch nicht sind; aber er benutzt sie ja auch nicht so, als käme seine Rechnung aus diesen (gezeichneten Strichen) zusammen. Überhaupt ja, was sich nicht wie ein Ganzes zum Teil verhält, und anderes zu ihm wie Teil zu Ganzem, aus nichts derartigem führt der Beweisende seinen Beweis, also erfolgt auch kein Schluss. Das Herausstellen benutzen wir so, wie auch die sichtbare Darstellung, indem wir es dabei auf den Lernenden abgesehen haben: nicht so, als ginge es ohne das nicht nachzuweisen, als wären es etwa die Annahmen zu einem Schluss.“ (Aristoteles 1998, An. pr., Kapitel 41, 49 b 33ff.).
[28] Zur Rolle von Analogien, Gleichnissen und Metaphern in der Mathematik vgl. Corfield (2003, 80f.).
[29] Die Katze, die uns zugelaufen ist, ist ein Beispiel dafür, dass Katzen bisweilen, aus welchen Gründen auch immer, ihr Revier und ‚ihre Menschen‘ wechseln. Eine mit dem Lineal oder auch der freien Hand gezogene „Geradenfigur“ ist dagegen kein Anwendungsbeispiel für die mathematische Definition der Geraden, sondern eine Hilfskonstruktion, anhand derer man gleichsam öffentlich über mathematische Denkfiguren verhandeln kann.
[30] Es ist nahezu undenkbar, dass ein systemtheoretischer Erläuterungstext zu den Laws of Form ohne eine Erwähnung dieser Kreise-Beispiele auskommt – vorliegenden Beitrag eingeschlossen.
[31] Vgl. Spencer-Brown (1979, 1): “We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.“
[32] Vgl. hierzu auch Zorn (2016, 277): „Ein letztes Beispiel dafür ist die ‚seltsame Schleife‘, das Möbiusband: Fährt man mit einem Stift auf einer Seite des Bandes entlang, erreicht man nach zwei Umdrehungen den eigenen Anfang. Die Auflösung zerstört die Illusion: Ein Band wird zerschnitten, einmal um 180° verdrillt und die beiden Enden wieder zusammengeklebt. D. h. man bleibt nicht ‚auf einer Seite‘, sondern man wechselt die Seite beim Überqueren der Klebestelle. Die Illusion gelingt, wenn man den Drill um 180° ebenso wie die Klebestelle ignoriert. Es gilt also bei Paradoxien immer, die Klebestelle zu finden: Das Problem ist aufgelöst, wenn es richtig gestellt ist.“ Übertragen auf systemtheoretische Lagen könnte man sagen, Systemdifferenzierung verdankt sich diesem Zaubertrick, den ein beobachtendes System (mit) sich selbst laufend aufführt, und Paradoxien treten dann auf, wenn das System über seine eigene Klebestelle stolpert.
[33] Man kann Unterscheiden an allerhand Beispielen vorführen, indem man Bezeichnetes als Resultate der fraglichen Operation des Unterschieden-Habens aufeinander bezieht; anhand gezeichneter Kreise oder der Venus von Milo. Nur ist der an die Tafel gezeichnete Kreis kein Beispiel für die sich reproduzierende Unterscheidung von System und Umwelt. Systeme sind halt keine Kreise.
[34] Vgl. Stekeler-Weithofer (1986, 111), dort allerdings bezogen auf die Flächendiagrammatik bei Aristoteles.
[35] Was den routinierten Umgang mit Diagrammen nicht ausschließt, im Gegenteil. Aber auch das selbstverständliche Erfassen von Kuchendiagrammen oder Wanderkarten will gelernt sein.
[36] Es bedarf einiger Überzeugungs-Vorbereitung, um es plausibel zu finden, an der Gestalt des Queren-Hakens eine Innen- und Außenseite hinzubeobachten. So erklärt sich vielleicht auch das Aha!-Erlebnis, wenn man nachträglich erfährt, dass Spencer-Browns Haken ursprünglich Quadrate waren und es einer Art Bequemlichkeit geschuldet ist, von Ikonizität auf Konvention umzuschalten und statt der Quadrate nur noch diese Queren zu notieren (die nun nicht mehr Grenzen gleichnishaft vorführten, sondern per Konvention anzeigen). Vgl., rückblickend, Spencer-Brown (1992, 4) (Abb. 3):
Abb. 3 [37] Nicht, dass solche Vereinbarungen nicht auch im Zusammenhang mit den Kreise-Bildern möglich wären. Aber diese Möglichkeit wird eben allzu leicht sabotiert durch die gestaltpsychologische Nahelegung, diese Kreise als Abbildungen von Systemen zu verstehen und so weitere theoretische Überlegungen vorzuformatieren. [38] Was also in üblicher Lesart eine Grenzziehung und den re-entry „signalisiert“ (die der Notation der Laws of Form entlehnte Queren-Linien), tut es auch hier; was sich in diagrammtischer Perspektive ändert, ist der theoretische Status dieser Vereinbarungen: sie betreffen nicht Fragen der Formalisierung, sondern „nur“ der Symbolisierung, wenn die Formen-Notate nicht als Schnappschüsse eines Kalküls-in-Betrieb verstanden werden, sondern als Hilfskonstruktionen zum Zwecke des Vergleichs. [39] Vgl. etwa Simon (2018, 15): „Unterscheiden kann als elementare Operation jeder Strukturbildung – nicht nur des Beobachtens – betrachtet werden (der erste Akt jeder Genesis).“ Beispielhaft auch jene Beschreibung in Huber (1996, 13): „Jeder Zeichner muss mit einer ersten Markierung auf einem weißen Papier beginnen, wenn er zeichnen will. Die Linie erschafft mit ihrem ersten Strich auf dem Papier ein Universum. Vorher war alles nichts, ungetrennte Potentialität, aber kein Universum.“ Man könnte aber auch sagen, es geschieht, was geschieht, und nur für eine sozial ermöglichte Beobachtung bieten sich Chiffren an, das Geschehen in Sinnformen wie Künstler, Zeichnen, die Figur des „ersten Strichs“ zu unterscheiden und „aufzuführen“ wie die Rollen in einem Theaterstück. Wäre der Beginn einer Erstellung einer Zeichnung tatsächlich der „erste Strich“ in einem Universum noch-formloser Möglichkeiten, woher wüsste der Zeichner (oder dessen Beobachtung), dass er zeichnet? Vgl. zur Deutung der Laws of Form mit Blick auf Schöpfungsmythen auch Conrad (2020). Vgl. auch die Einschätzung von Rathgeb (2016, 230): „In ([Spencer] Brown, 2007) behauptet der Autor explizit, erst im Nachgang zu den Laws of Form den unterschiedslosen Anfang ausgemacht zu haben: das Nichts. Vielleicht wäre er auch bereit, so möchte ich mutmaßen, das Nichts den voraussetzungslosen Anfang zu nennen, auf welchen die Vernunfterkenntnis im Gegensatz zur Verstandeserkenntnis gemäß Platons Liniengleichnis abziele (vgl. Politeia, 511b-c). Denn nur in Nichts könne es, so Brown, ohne das weitere Zutun eines Beobachters zu einer Unterscheidung kommen. Meines Erachtens ist diese Begründung kaum zwingender als die gleichnamige Lösung der Rätselfrage: Was ist mächtiger als Gott und wenn man es isst, dann verhungert man?“ [40] Eine Herausforderung für jede Illustratorin, die sich Aliens ausdenken soll: Ihre Gestalt muss, da das Alien-Geschichten-Publikum längst eine dahingehende Schema-Erwartung ausgebildet hat, einen überraschenden, abweichenden Moment aufweisen – und doch vertraut genug sein, um als Instanz des Formats ‚Alien‘ (wieder)erkannt zu werden. Was Geschichten, in denen die Aliens die Gestalt von Menschen an- bzw. übernehmen, wiederum, in einer Art Art re-entry, für einen Grusel zweiter Ordnung zu nutzen wissen: Ähnlichkeit als unheimliche Abweichung, als, um eine Formulierung Husserls zu verwenden, „Leerhorizont einer bekannten Unbekanntheit“ (Husserl 1939, 35). [41] Das wirft en passant ein neues Licht auf das, was man alltagssprachlich „Kreativität“ nennt. Entgegen der landläufigen Semantik wären kreative Leute dann nicht solche, denen besonders „viel“ einfällt, sondern besonders wenig, die aber diesem Impuls dann tatsächlich nachgehen. Während die klassische technische Zeichnung beim Ziehen einer möglichst geraden Linie in jedem Moment dieser Ausführung an Negationsmöglichkeiten denken muss, um ihnen nicht zu folgen (und zwar topologisch – „nicht zu einer oder der anderen Seite auslenken!“ –, mechanisch – „nicht unterschiedlich fest aufdrücken!“ – und zeitlich – „nicht ungleichmäßig ziehen!“), also laufend Unmengen von möglichen Abweichungen registriert, setzt die entwerfende Bewegung den Stift ohne besondere Umsicht ‚einfach‘ auf und zieht den Strich, ohne gleichsam nach links oder rechts zu sehen; aber während des lockeren (d.h. für Störungen offenen) Ziehens wird irgendeine Irritation aufgenommen, und dieser einen Abweichungsmöglichkeit geht der entwerfende Linienzug dann aber auch nach, und die Linie biegt sich spontan aus zu einem Ast beim Zeichnen eines Baumstammes, oder einem Kringel beim Zeichnen einer Wolke. [42] Vgl. Baecker (2021, 9): „Die Arbeit mit und an einem Katjekt beginnt, wenn sich jemand an eine Tafel stellt, eine Unterscheidung notiert und zusammen mit anderen den Versuch unternimmt, diese Unterscheidung in die Voraussetzungen ihrer eigenen Form zu entfalten.“ Und eine der unauffälligen Eigenschaften dieser Notate ist eben, in der hiervorgeschlagenen Perspektive, dass es Notationen sind; deren Reflexion eröffnet die Möglichkeit, die medialen Schienungen der „Schrift der Form“ (Fuchs/Hoegl 2011) in ihren möglichen Effekten auf das in ihren Formen (nicht) Ausdrückbare zu explizieren.
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